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Angela Merkel soll sich abfällig über die Hansestadt geäußert haben Das Schreckbild der Kanzlerin ist Salzwedel

Von Torsten Adam 09.03.2011, 04:29

Salzwedel ist das Paradebeispiel für den wirtschaftlichen Nieder- gang einer Stadt. So sieht es jedenfalls Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Bei mehreren Veranstaltungen führte sie die Hansestadt gern an - als Drohkulisse dafür, was passieren könnte, wenn man nicht ihren politischen Zielen folgt. Zuletzt bekamen es die Stuttgart21-Gegner in Baden-Württemberg zu hören.

Salzwedel. Seit Angela Merkel den Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg zu einer Volksabstimmung über den Bahnhofsneubau Stuttgart21 erklärt hat, schlagen ihr Proteste entgegen. So wie vor drei Wochen in Gammertingen, einem 6500-Seelen-Ort auf der schwäbischen Alb. Armin Käfer, Parlamentskorrespondent der "Stuttgarter Zeitung", war vor Ort und berichtete am 1. März: "Wer gegen Stuttgart 21 ist, den verweist Merkel nach Salzwedel - ihr Schreckbild für die ,Dagegen-Republik\'. Die einstige Hansestadt, eine mittelalterliche Wirtschaftsmetropole, liegt heute im Schatten der Weltgeschichte. Sie hat einen Bahnhof, aber den Anschluss verpasst. Die Arbeitslosenquoten sind zweistellig. Und niemand wird es wundern, dass Linke, Grüne und Sozialdemokraten den Stadtrat beherrschen. Das ist eine der Geschichten, die die Kanzlerin gerne im Wahlkampf erzählt. Und dies nicht nur in Gammertingen."

Gegenüber der Volksstimme sagte der Autor des Berichts gestern, dass den Vergleich von Stuttgart21 mit Salzwedel für ein "schräges Beispiel" halte. Dennoch führe es die Kanzlerin immer wieder an. Er habe es schon zwei-, dreimal bei Wahlkampfauftritten mit eigenen Ohren gehört. Im Oktober bei der CDU-Regionalkonferenz in Lübeck war Salzwedel ebenfalls "Mode". "Spitz und ironisierend", so schrieb "Die Welt", sprach die Kanzlerin dort über die einst bedeutende Hansestadt, die dann den Anschluss verpasst habe.

Merkels These von der "Dagegen-Republik" ist historisch nicht belegt. "Ich höre sie heute zum ersten Mal und würde sie ablehnen", sagte Stadtarchivar Steffen Langusch.

Der 30-Millionen-Euro-Schuldenberg der Hansestadt ist vielmehr unter Regentschaft von Merkels Partei, der CDU, entstanden: Stadtwerke-Verkauf und überteuerter Kulturhaus-Umbau rissen ein Millionenloch in die Stadtkasse. Die CDU stellte damals Bürgermeister und stärkste Fraktion im Stadtrat. Die Bahnstrecken nach Oebisfelde und Wittenberge wurden abbestellt durch Landesverkehrsminister Karl-Heinz Daehre - auch CDU. Das aktuelle Haushaltsdefizit von über elf Millionen Euro, hauptsächlich durch die Gebietsreform und das neue Finanzausgleichsgesetz verursacht - jeweils verabschiedet von der CDU-geführten Landesregierung.

Die Pressestelle der Bundes-CDU versuchte auf Volksstimme-Nachfrage zu retten, was noch zu retten ist. Die Aussagen der Kanzlerin seien in der "Stuttgarter Zeitung" aus dem Zusammenhang gerissen worden. Gleichzeitig bat der Auskunftgebende da-rum, nicht zitiert zu werden.

Landrat Michael Ziche wollte gestern die Worte seiner Parteivorsitzenden gar nicht glauben. "Als Ostdeutsche weiß sie um die hiesigen Aufbau- und Strukturprobleme und den Nachholbedarf der neuen Bundesländer", begründete er. Sollte die Kanzlerin dies wirklich so gesagt haben, müsse sie eine schlecht recherchierte Zuarbeit bekommen haben. Denn einen aktuellen Anlass, Salzwedel als Beispiel-Ort von Verhinderungspolitik auszuwählen, sehe er nicht. Die Arbeitslosenquoten des Altmarkkreises sei sogar eine der niedrigsten in Sachsen-Anhalt. "Ich würde Frau Dr. Merkel gern nach Salzwedel einladen, damit sie sich davon überzeugen kann, dass der Vergleich hinkt", so Ziche. Seines Wissens nach war Merkel bisher einmal in Salzwedel zu Gast - in den 1990er Jahren als Bundesumweltministerin.

Ebenso ungläubig ob der Kanzlerin despektierlichen Äußerungen war Erich Kaiser, der die momentan nicht im Dienst stehende Oberbürgermeisterin Sabine Danicke vertritt. "Was die mit Stuttgart 21 vielleicht am ehesten vergleichbaren Planungen anbelangt, sind wir in Salzwedel mehrheitlich nicht ,dagegen\', sondern ,dafür\'. Um gleich beim Bahnhof und der Bahn anzufangen: Wir sind für den geplanten zweigleisigen Ausbau der sogenannten Amerikalinie bis nach Bremerhaven. Wir waren auch nie dagegen, dass die in den 90er Jahren vom Bund vorgesehene X-Variante mit dem Autobahnkreuz unterhalb von Salzwedel realisiert wird." Nachweisbar hätten Bundes- und Landesbehörden die Planung geändert, entgegen dem Willen der Stadt. Der Stadtrat sei auch mehrheitlich für die B 190n, nicht dagegen. Darüber hinaus habe er sich für den mehrspurigen Ausbau der B 71 und B 248 ausgesprochen. Allerdings seien diese Vorhaben aus dem neuen Landesentwicklungsplan herausge- nommen worden, nannte Kaiser weitere Beispiele, die die These von Salzwedeler Verhinderungspolitik ad absurdum führen.