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Kirchbauverein Barby lud zur ersten Turmführung der Saison / Jahrgang 1948/49 kam mit der Englischlehrerin Ein Klassentreffen mit guter Aussicht

Von Thomas Linßner 02.06.2015, 03:25

Zum ersten Mal in dieser Saison konnte der Barbyer Marienkirchturm bestiegen werden. Bei sonnigem aber windigem Wetter reichte der Blick bis zum Harz. Zu den Turmbesteigern zählten auch die Damen und Herren eines Klassentreffens des Jahrgangs 1948/49 sowie andere "Erinnerungsträger".

Barby l Die meisten Turmbesteiger sind aufgeschlossen und kommen mit den Leuten des Kirchbauvereins schnell ins Gespräch. Besonders dankbar sind Besucher, die nach längerer Zeit wieder einmal ihre alte Heimat besuchen und bei denen Erinnerungen der Kindheit besonders gut "abgespeichert" sind.

"Dort wurden wir am 15. April 1945 ausgebombt."

Darunter ist Heide Jacob (geb. Bergt) aus Merseburg, die aus Hohenlepte bei Zerbst stammt. "Dort wurden wir am 15. April 1945 ausgebombt", erzählt die 74-Jährige. Nachdem die Amerikaner die Elbe bei Barby überschritten hatten, wurde auf ostelbischer Seite ein Brückenkopf gebildet. Die Schicksalsstunde für Zerbst schlug einen Tag später: Am 16. April versank die alte Residenzstadt nach einem 40-minütigen Bombenangriff in Schutt und Asche. Der Nazi-Kampfkommandant hatte zuvor die Übergabe mehrfach abgelehnt. Zu diesem Zeitpunkt hatten Heide und ihre Mutter bei Barby die Elbe auf abenteuerliche Weise überquert. "Unser Ziel war Tornitz, wo wir schließlich bei Verwandten unterkamen", erzählt die 74-Jährige.

Dort wurde sie 1946 eingeschult. Es sei eine "Einklassenschule" gewesen; die Kinder pendelten zwischen Tornitz und Werkleitz. Hier lernte Heide Bergt bis zur 8. Klasse. Danach ging sie in Barby zur Oberschule, wo sie 1958 das Abitur ablegte. Im Marienstift befand sich das Internat. Auch Schüler aus dem relativ nahen Tornitz wohnten dort. Schulbusverkehr gab es noch nicht. "In der 9. Klasse bekam ich solches Heimweh, dass ich zu Fuß nach Hause gestiefelt bin", erzählt Heide Jacob heute lächelnd. Später studierte sie in Leipzig Anglistik und Germanistik, war danach als Lehrerin an der Schönebecker Käthe-Kollwitz-Schule tätig. In Magdeburg lernte sie auf einem Faschingsball der Hochschule den Studenten Klaus Jacob kennen, der ihr Ehemann wurde. Die beiden zogen nach Merseburg, wo der Chemiker Prof. Dr. Jacob an der Hochschule lehrte, sie an der erweiterten Oberschule (EOS) Ernst Haeckel. Weil das Nicht-SED-Mitglied Heide Jacob dort kritisch auftrat, wurde sie an eine andere Schule versetzt.

Die Lehrerin war von ihren Schönebeckern Kollwitz-Schülern zum Klassentreffen eingeladen worden. Das Organisationsteam um Herta Flade hatte 19 Ehemalige um sich geschart, die das Barbyer DDR-Museum, den Kirchturm besuchten und danach in Ronney übernachteten.

Während wir uns unterhalten, steht geduldig ein kleiner Junge neben uns, der auf den Turm will. Es ist Max Schmidt aus der Schulstraße, der sein Elternhaus mal von oben sehen möchte. Der Achtjährige findet es schnell. Von hier aus kann er seiner Mama zuwinken, die neben der visuellen auch die verbale Kommunikation per Handy nutzt. "Mama, ich sehe dich", spricht er ins Smartphone.

"Da ist die Caféecke, der `Chinese`, das Rathaus ..."

Max kennt sich aus. "Da ist die Caféecke, der `Chinese`, das Rathaus, die Post und die Eisdiele", zeigt der aufgeweckte Knabe in verschiedene Himmelsrichtungen.

Danach genießt Jens Eichner mit seiner Schwester und den Kindern Charlotte und Dominik die Aussicht. "Ahh, da hinten sehe ich die Victorshöhe im Unterharz", zeigt Eichner in südwestliche Richtung. "Da ist die Stempelstelle 189 an der Großen Teufelsmühle."

Die was?

Jens Eichner und sein Sohn Dominik sind frisch gebackene "Wanderkaiser" der erfolgreichen Tourismus-Idee Harzer Wandernadel. Sie haben alle 222 sehenswerten Plätze aufgesucht und sich zum Beweis einen Stempel geholt. Würde es "Wetten dass ...?" noch geben, wäre der Kraftfahrer ein potenzieller Kandidat gewesen. Ruft man ihm Zahlen wie 215, 46, 57 oder 212 zu, kommen wie aus der Pistole geschossen die passenden Orte Josephshöhe (Auerberg), Ring der Erinnerung, Hohle Eiche von Allrode oder An der Queste bei Questenberg zurück. Kein Wunder, dass Eichner vom Kirchturm besonders oft in Richtung Harz guckt ...

"Turmdienst" hat an jenem Tag Kirchbauvereinsmitglied Rüdiger Uhlmann. Er bekommt Besuch von seinem ehemaligen Doppstadt-Arbeitskollegen Cord Proske, der auch aus Barby stammt. Die Männer tauschen Erinnerungen aus. "Kannst du dich noch an die Geschichte mit der Hochseiltruppe erinnern?", grinst Uhlmann. "Nee, erzähl mal!", fordert Proske ihn vergnügt auf.

Bei einem Heimatfest, vermutlich 1955, spannten die Artisten ein Stahlseil vom Kirchturm zum Rathaus, um darauf wie weiland Schalknarr Eulenspiegel zu balancieren. Wenige Tage später herrschte große Aufregung im Rathaus. Die Drahtseilartisten waren weg, ein paar Dutzend Lebensmittelmarken im Amt auch ... Wie damals der "Stadtfunk" meldete, hatten sich die Nachwuchs-Eulenspiegel abends bedient, als keiner mehr im Rathaus war.