1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Staßfurt
  6. >
  7. Die bewegende Geschichte der Familie Schneidewind aus Tarthun

Ehemaliger Klosterhof ist heute umgestaltet zu einem Landschaftspark Die bewegende Geschichte der Familie Schneidewind aus Tarthun

Von Nadja Bergling 04.09.2013, 01:08

Der Landschaftspark in Tarthun ist ein Hingucker. Gestaltet wurde er von Werner Schneidewind. Das ist nicht alltäglich, denn hinter ihm und seiner Familie steckt eine bewegende Geschichte.

Tarthun l Wohl keine Familie ist so verbunden mit Tarthun wie die Familie Schneidewind. Einst waren sie Besitzer der landwirtschaftlichen Flächen mit Gutshaus und des Klostergutes Tarthun. Es war eine sehr geachtete, angesehene und zur damaligen Zeit außergewöhnlich sozial eingestellte Familie. Werner Schneidewind (Senior) war sehr auf das Wohlergehen seiner Mitarbeiter bedacht. Rührig kümmerte er sich selbst bei Krankheit um ihr Wohlergehen. Sogar ein Arzt wurde für vier Gutsbetriebe in Wolmirsleben, Unseburg, Tarthun und Westeregeln eingestellt. Zum Weihnachtsfest wurden die Kinder der Mitarbeiter von der Familie Schneidewind sogar beschenkt. Diesem Umstand war es auch zu verdanken, dass Familie Schneidewind, als sie am 16. Oktober 1945 innerhalb von 24 Stunden Hab und Gut in Tarthun verlassen musste, bei der Bevölkerung Tarthuns Unterstützung fand. Unter Einsatz ihres Lebens halfen Mitarbeiter des Gutsbetriebes einige Möbelstücke und Wertsachen der Familie zu retten.

Werner Schneidewind, damals viereinhalb Jahre alt, erinnerte sich, dass sie nur einen Koffer pro Person, mit den nötigsten Sachen mitnehmen durften. "Unsere Familie ging dann nach Eggersdorf auf den Röselerschen Hof. Der Hof gehörte der Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits", erinnert sich Werner Schneidewind heute. Da der Hof in Eggersdorf nicht die zu der Zeit vorgegebene Größe überschritt, wurde die Familie nicht enteignet. Ein weiterer Hof befand sich in Vehlitz, der Hof der Großmutter, diese beiden Höfe bewirtschaftete die Familie Schneidewind dann. "Ich wurde damals in Tarthun, wie das früher ja so war, von einem Kindermädchen betreut. Meine Kinderfrau kam aus Borne. So beschloss meine Familie, dass ich erst einmal für einige Zeit bei dem Kindermädchen in Borne bleiben sollte. Natürlich war das für einen so kleinen Hosenmatz ein Abenteuer. So habe ich Gott sei Dank nicht alles mitbekommen, denn mein Vater wurde von den Russen abgeholt und ins Gefängnis gesteckt. Die Schwester meines Vaters, Frau Höpke, die in Unseburg Pächterin der Domäne war, setzte sich bei dem zuständigen sowjetischen Kommandanten für meinen Vater ein. So blieb ihm ein trauriges Schicksal erspart und nach drei Wochen Gefängnis kam er wieder nach Hause. Wir hörten ja, dass viele, die von der sowjetischen Besatzungsmacht in der damaligen Zeit abgeholt wurden, nach Russland verschleppt, ins KZ gesteckt oder sogar umgebracht wurden", erzählt Werner Schneidewind.

Nun aber ging es in Eggersdorf endlich weiter und es war ein Lichtblick im Leben der Familie, die trotzdem ja immer noch darauf hofften, wieder auf den Hof nach Tarthun zurückkehren zu können.

So führte die Familie bis 1953 die Wirtschaften in Eggersdorf und Vehlitz bei Gommern weiter. Doch der Druck auf die noch selbstständig arbeitenden Bauern durch die ideologisch-politische Überzeugungsarbeit der Parteien und der Ortsausschüsse der Nationalen Front wurde immer stärker. Ziel war es, dass die Dörfer in naher Zukunft "vollgenossenschaftlich" sein sollten.

"Im Auffanglager bei Uelzen war es damals einfach nur schrecklich"

Es wurden sogar Schauprozesse durchgeführt. "So sollte es auch unserer Familie in Eggersdorf ergehen. Nach einem Tipp, flüchteten wir am 16. Januar 1953 nach Westberlin. Von Berlin wurden wir nach Hannover ausgeflogen, Verwandte hatten dort einen Kaufmannsladen, bei ihnen kamen wir aber nicht unter. Wir mussten in ein Auffanglager in der Nähe von Uelzen. Wie alle wurden wir dort entlaust. Das Zeug wurde oben unter dem Arm reingepustet und kam unten aus der Hose wieder raus, es war einfach nur schrecklich", sagt Werner Schneidewind.

Im Lager erfuhren die Schneidewinds, dass täglich 800 bis 1000 Familien aus dem Osten in den Westen flüchteten. Jeden Morgen um 8 Uhr brachte der Norddeutsche Rundfunk die neusten Zahlen über den Sender. Da war es natürlich schwer Unterkunft, und Arbeit zu bekommen. Nach drei Wochen im Lager bekam dann die Familie eine Zuweisung auf Unterkunft nach Twistringen in der Nähe von Bremen. Das Haus hatte nicht mal ein Dach, ein Leben war da nicht möglich. So ging es von dort nach Scholen in ein ehemaliges Arbeiterhaus.

"Mein Vater bekam leider keine Arbeit und so entschloss er sich schweren Herzens, Wertsachen und Schmuckstücke, die schon viele Jahre in Familienbesitz waren, zu verkaufen, um uns eine neue Existenz aufbauen zu können. Natürlich hatte er da schon was im Auge. Er kaufte in Hamburg-Haburg eine Wäscherei und dort konnten wir eine zweieinhalb Zimmerwohnung beziehen. Es ging aufwärts, das war so schön für uns alle", erinnert sich Werner Schneidewind. Zirka drei bis vier Jahre hatte man die Wäscherei, bis dann der Vater eine Stelle bei der Hamburg-Mannheimer Versicherung, als Vertreter für "Landwirtschaftliche Betriebe" bekam.

"Ich besuchte inzwischen die Handelsschule und war übrigens der einzige in unserer Familie, der nicht studieren wollte. Inzwischen wohnten wir in Rellingen und ich machte eine Lehre in der Baumschule Strobel in Pinneberg", so Schneidewind.

Neugierig auf die Welt zog es Werner Schneideweind dann mit 21 Jahren nach Kanada und von dort führte sein Weg nach Amerika. "Es war eine aufregende Zeit, die mich geformt und bereitgemacht hat für mein späteres Leben. Ich tingelte durch Amerika, und ein Ziel von mir war natürlich auch Los Angeles. Ich hatte dort Arbeit in einer Baumschule gefunden und lernte durch Zufall einen Dänen kennen, der gut Deutsch sprach. Er erzählte mir von der Baumschule Monruvia Nuerseries, wo er arbeitete und er war es auch, der mir dort später eine Anstellung verschaffte", erinnert sich Werner Schneidewind. Der Leiter der Vermehrungsabteilung war verstorben und da es ein Deutscher war, hatte er seine Aufzeichnungen auch in Deutsch geschrieben. Schneidewinds Aufgabe war es nun, die Texte zu übersetzen. Dabei lernte er den Chef der Baumschule kennen. Er bot ihm die Leitung der Vermehrungsabteilung an.

"Ich verlor bei einem größeren Auftrag sehr viel Geld"

400 Leute arbeiteten in dieser Abteilung, es war für Werner Schneidewind eine große Herausforderung. Ein Traum ging damals für ihn in Erfüllung. Mit seinen 23 Jahren stand er auf der Sonnenseite des Lebens. Doch dann bekam Werner Schneidewind Post von seinem Vater. Sein Wunsch war es, dass er zurückkommt. Seine Worte, die den Sohn sehr berührten: "Junge, wenn ich zwei Söhne hätte, könntest du da bleiben, aber ich habe nur einen Sohn - dich - und ich brauche dich hier, bitte komm zurück".

Plötzlich war alles anders, natürlich entschied sich Werner Schneidewind für die Familie und kehrte nach Deutschland zurück. Wieder zu Hause in Deutschland angekommen suchte er sich Arbeit in einem Gartencenter. "Ich wollte aber Verantwortung übernehmen, was meinem Chef auch gefiel und natürlich wollte ich auch mehr Geld. Da hatte ich wohl zu hoch gepokert und mein Chef warf mich raus." Werner Schneidewind machte sich im Alter von 24 Jahren mit einem Garten- und Landschaftsbaubetrieb selbständig. Als Jungunternehmer musste er feststellen, dass das alles nicht so einfach war. "Bei einem größeren Auftrag verlor ich viel Geld. So musste ich eine bereits gekaufte Immobilie in Hamburg verkaufen, um weitermachen zu können", so Schneidewind.

44 Jahre später: 1989 am 9. November fiel die Mauer, die innerdeutsche Grenze, die Ost und Westdeutschland von- einander trennte. "Eines Tages erhielt ich einen Anruf von einem Herrn Preuß, Bürgermeister der Gemeinde Tarthun", weiß Werner Schneidewind noch ganz genau. Man erinnerte sich an die Familie und stellte in einem Telefonat die Frage, ob Werner Schneidewind den landwirtschaftlichen Betrieb, sprich die LPG "Immer Bereit", die auf dem damaligen Hof ihr Domizil hat, als Pächter übernehmen würde. "Natürlich müsste ich für die Übernahme einen Abstand zahlen. Ich bat um Bedenkzeit, so etwas Wichtiges muss erst mit der Familie besprochen werden. Mich reizte es ja wieder, in mein Elternhaus zu kommen, doch meine Familie konnte ich erstmal nicht davon überzeugen", so Werner Schneidewind.

Zu spät überlegte er sich, das Angebot doch anzunehmen. Als er dann beim Bürgermeister Herr Preuß anrief, war gerade der Kaufvertrag mit der Familie Van der Velde unterschrieben. Heute bewirtschaftet die Familie Van der Velde die landwirtschaftlichen Flächen und den Hof der Familie Schneidewind.

"Wir fühlen uns hier in Tarthun immer noch sehr wohl"

Übrigens konnte Werner Schneidewind den 1946 enteigneten Besitz wieder zurück kaufen. Der ehemalige Klosterhof, der das zu Hause der Großeltern von Werner Schneidewind war und den er über die Gemeinde Tarthun 1996 zurückkaufen konnte, ist heute Zweitwohnsitz seiner Familie.

Das bei einer Grundstücksversteigerung erworbene Land, welches an das Grundstück des Klosterhofes angrenzt, gestaltete Werner Schneidewind zu einem Landschaftspark um, den er auch gern mal für besondere Anlässe, wie zum Tag der Egelner Mulde, für alle interessierten Gäste öffnet. "An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass wir trotz der Trennung von über 48 Jahren bei der Bevölkerung in Tarthun wieder herzlich aufgenommen wurden. Wir fühlen uns hier sehr wohl", so Werner Schneidewind, der gerne in der Egelner Mulde ist und für seine Familie spricht.

Marlies Hildebrandt und Silvia Gatterfeld sind Bürgerarbeiter. Sie befassen sich intensiv mit der Geschichte der Egelner Mulde und ihren Mitgliedsgemeinden. Auch die Randepisoden haben es den beiden Frauen angetan. So wie die der Familie Schneideweind aus Tarthun. Diese Geschichte stellen sie den Volksstimme-Lesern in leicht gekürzter Fassung zur Verfügung.