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Musiksommer mit Pianistin Sofja Gülbadamova / Pfarrer Rüdiger Meussling: Das Himmelreich auf Erden in Pretzien

Von Caroline Vongries 12.07.2010, 05:55

Das "Himmelreich auf Erden" sei das Konzert mit Sofja Gülbadamova gewesen, sagte Rüdiger Meussling in Pretzien. Er muss es wissen, schließlich hat der Plötzkyer als Pfarrer im Ruhestand immer noch einen besonderen Draht nach oben. Drei Zugaben erklatschte das Publikum beim Klavierkonzert des 36. Pretziener Musiksommers. Trotz Hitze war die Sankt-Thomas Kirche bis in den Chor und Altarraum hinein voll besetzt.

Pretzien. "Heute habe ich zwischen zwei Kirchturmglocken gestanden", sagt Rüdiger Meussling, Pfarrer im Ruhestand. "Um zwölf läuteten nämlich beide, die aus Plötzky und die Pretziener", fügt der agile Kirchenmann hinzu. Es ist heiß an diesem Sonnabend vor dem Konzert in der Pretziener Sankt-Thomas-Kirche. So heiß, dass sich Meussling und seine Frau Maria entschließen, die vordere Kirchentür, auf der die Sonne steht, nicht zu öffnen und das Publikum lieber durch den Hintereingang zu lotsen. "Das haben wir ja noch nie gemacht", sagt Pfarrerstochter Gesa Meussling-Queißer. Für ihre Eltern gehört der Musiksommer zum Lebenswerk, für das beide, unabhängig voneinander, mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden sind.

Ohne die Meusslings gäbe es die wunderschöne Prämonstratenserkirche nicht mehr, und noch weniger wären die Wandmalereien entdeckt und restauriert, die dem Raum eine wunderbare Transparenz, ja schon Transzendenz geben. Und natürlich gäbe es ohne sie und die vielen fleißigen Helfer, die sie immer in den ostelbischen Ort gelockt haben, auch keinen Musiksommer. Mit Sofja Gülbadamova spielt an diesem Nachmittag eine international gefragte Solistin. Schon oft hat sie zum Musiksommer gespielt. "Und ich komme immer wieder sehr gern hierher", sagt die in Russland geborene Musikerin, die seit Jahren bereits in Paris lebt. Verbunden mit ihren Auftritten ist stets die Frage: Wie kommt ein Klavier in eine romanische Landkirche? Da kommt Kurt Hegner ins Spiel, Unternehmer aus Helmstedt und Haldensleben mit einer großen Liebe zur Musik. Er hat großzügig nicht nur diese Pianistin und andere Musiker jahrelang gefördert, den Städten, in denen er sich wirtschaftlich niedergelassen hat, hat er auch zu einem eigenen Flügel verholfen. Am Sonnabend hat er sein Prunkstück zur Verfügung gestellt, ein mitternachtsblaues Instrument, gebaut für die Pariser Weltausstellung in den 80er Jahren, aus dem Haus Grotrian Steinweg.

Dank für all die Arbeit ist ein wahrhaft atemberaubendes Konzert in der vollbesetzten Sankt-Thomas-Kirche. Mit hoher Konzentration schafft es Sofja Gülbadamova, dass man für anderthalb Stunden die Hitze tatsächlich vergessen und mit ihr in die Seelenwelten der beiden Komponisten Frederik Chopin und vor allem Johannes Brahms eintauchen kann. Mit Leichtigkeit und Leidenschaft zugleich wirft sie sich in die Gefühlswelt Brahms und arbeitet neben dessen differenzierter Gestaltungskraft vor allem das Sehnen heraus, das in seinem Schaffen stets untergründig schwingt. Kurzfristig hat sich Gülbadamova deshalb entschlossen, das Programm zu ändern und nicht nur frühe Balladen (Opus 10) zu spielen, sondern auch ein Spätwerk Brahms: die Fantasien Opus 116. Ein Gebet, eine Beschwörung, ein Tanz, den Gülbadamova mit ganzem Körpereinsatz zelebriert, etwas Unbändiges klingt daraus, Seele, die Erfüllung sucht.

Ohne dass sich diese großartige Musik im Biografischen erschöpfen würde, ist es dennoch interessant zu wissen, dass Brahms der Frau seines Mentors, dem Komponisten Robert Schumann, Clara, eng verbunden war und ihr in der schweren Zeit zur Seite stand, als Schumann in die Psychiatrie in Bonn eingeliefert wurde, aus der er nie wieder zurückkehrte.

In jedem Fall sind die Fantasien von Brahms fast ein musikalisches Manifest der Worte, die Pfarrer Rüdiger Meussling während einer kleinen Pause den Menschen ans Herz legt: "Es kommt nicht darauf an, was du bist, sondern wie du bist, es kommt nicht darauf an, was du tust, sondern wie du es tust, es kommt nicht darauf an, geliebt zu werden, sondern selbst zu lieben."

Drei Zugaben von Francis Poulenc runden den Nachmittag ab: "Damit deutlich wird, dass klassische Musik nicht immer so ernst sein muss", sagt Gülbadamowa, die sich freut, am Rande des Konzerts eine Freund zu treffen: den in Schönebeck geborenen Geiger Zsolt-Tihamér Visontay, der beim London Philharmonia Orchestra spielt. Ein Stelldichein interessanter Menschen ist der Pretziener Musiksommer bis heute geblieben.

Ein Lächeln auf die verschwitzten Gesichtern der Zuhörer zaubert zum Abschluss noch einmal Rüdiger Meussling: Sein Gebet: "Herr, schenke uns heute Nacht einen kühlen Raum!" "Ein Himmelreich auf Erden", hatte er zuvor diese musikalische Stunde genannt.Wunderbarerweise passte dann auch der Klaviertransporter doch unter dem gotischen Torbogen hindurch. Ohne die kostbare (und gewichtige) Ladung hatte das nämlich nicht funktioniert. Kurt Hegner persönlich transportierte das gute Stück zurück nach Helmstedt und verzichtete dafür aufs Fußballschauen.