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Neujahrsempfang 2010 : Landrat Ulrich Gerstner hebt höhere Akzeptanz des Kreises hervor / Wirtschaftsweiser Professor Peter Bofinger erklärt : "Wir alle müssen Egoismen aufgeben"

Von Caroline Vongries und René Kiel 18.01.2010, 04:52

Zum traditionellen Neujahrsempfang von Salzlandkreis und Salzlandsparkasse waren Freitagabend rund 550 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung in das Salzlandcenter nach Staßfurt gekommen. Dazu gehörten auch die Europa-, Bundestags- und Landtagsabgeordneten der Region.

Staßfurt. Überraschende Botschaft des Neujahrsempfangs von Salzlandkreis und Salzlandsparkasse : " Wir leben hier in Deutschland gar nicht über unsere Verhältnisse, was von allen geglaubt und von Bundespräsident bis Bundeskanzlerin verkündet wird. " Dies sagt einer der fünf Wirtschaftsweisen im Sachverständigenrat, Professor Dr. Peter Bofinger, der diesjährige Festredner. " Das weiß nur in Deutschland niemand ", fügt er hinzu. Der in Würzburg an der Universität lehrende Volkswirt erläuterte nicht nur, warum die Investitions- und Schuldenpolitik der Bundesregierung ( und anderer Staaten ) angesichts der durch die Pleite der amerikanischen Lehmann-Bank ausgelösten Finanzkrise die richtige Medizin gewesen sei. Er erklärt auch, warum seiner Ansicht nach das Geschäftsmodell ( Export- ) Deutschland ein Auslaufmodell ist und auch weltweit neue ökonomische Grundwerte gefunden werden müssen. Sein Fazit nach anderthalb Stunden frei vorgetragenen Thesen : Alle, auch die Bürger, müssten mehr Egoismen aufgeben und mehr auf das Gemeinwohl bedacht sein, auf Nachhaltigkeit. Gerade aus wirtschaftlicher Sicht.

Denn nicht nur die " bösen Bänker " seien schuld an der Krise, erklärt Bofinger, " auch wenn wir uns in der Gesellschaft darauf inzwischen verständigt haben ". Provozierend fragt er : " Sind wir nicht alle vom Virus des Geldes befallen ?" Angesichts der bestehenden ernsten Situation und der globalen Herausforderungen sei es doch geradezu skandalös, dass den Start der neuen Bundesregierung vor allem ein Thema beherrscht habe : Welche Vorteile jeder Einzelne durch Steuersenkungen erlangen könne.

In seiner Rundumbetrachtung hatte der Finanzexperte den anwesenden Kommunalpolitikern zunächst Argumentationshilfe für das Schuldenmachen oder haben gegeben. Das Fiasko der ersten Weltwirtschaftskrise 1929 sei durch den damaligen Sparkurs der Regierung ( en ) entstanden, mit den bekannten katastrophalen politischen Folgen.

Doch auch wenn diesmal laut Bofinger die Politik die Krise erst einmal in den Griff bekommen hat : " Wie nach einem Herzinfarkt, erfolgreicher Reha, ist der Patient nicht mehr derselbe ". Verhaltensänderung sei gefragt. " Vor der Krise hat im Prinzip der schwäbische Sparer aus Reuttlingen zum Beispiel dem Jim in Nevada sein Haus finanziert ", bricht Bofinger die Weltwirtschaft herunter : Deutschland habe seit Jahren Gewinne durch Export gemacht ohne im eigenen Land den Konsum oder Investitionen anzukurbeln. Im Gegenteil habe Deutschland davon profitiert, dass andere Länder, wie die USA, Spanien, Griechenland ihren Konsum ausgeweitet hätten – zum Teil auf Pump. " Nur jetzt will oder kann niemand mehr Schulden machen. " Das sei beunruhigend. Jetzt habe erst einmal der Staat anstelle von Jim aus Nevada Schulden gemacht. Das sei natürlich keine Dauerlösung. Grundsätzlich müssten dringend im Land Investitionen gefördert werden. Enttäuschend sei, dass dies auch die neue Bundesregierung nicht tue. Bofinger warnte davor, " die Zukunft zu verspielen ".

Landrat Ulrich Gerstner ( SPD ) stellte fest, dass der Salzlandkreis zweieinhalb Jahre nach seiner Gründung weiter an Akzeptanz gewonnen habe. Er erinnerte an den verheerenden Erdrutsch bei Nachterstedt, bei dem drei Menschen ihr Leben und 40 ihr Zuhause verloren hatten. " Dieses schreckliche Ereignis hat uns alle sehr bewegt. Deshalb war die enorme Hilfsbereitschaft und Solidarität mit den Betroffenen so wohltuend ", sagte Gerstner. Er hoffe auf eine eindeutige Aufklärung der Ursachen und eine zügige Umsetzung der erforderlichen Sicherungskonzepte als Grundlage für die Weiterentwicklung des Tourismusstandortes Seeland.

Sehr gut gelungen sei es der Führungsmannschaft sowie den Mitarbeitern der Kreissparkasse, sich nach der zum 1. Januar 2009 erfolgten Fusion auf eine gemeinsame Philosophie zu einigen, schätzte der Kreischef ein. Dies bekräftigten aus ihrer Sicht später die beiden Vorstandsvorsitzenden der Salzlandsparkasse Manfred Köhler und Axel Lueg.

Das Krisenjahr 2009 sei auch am Landkreis nicht spurlos vorübergegangen, sagte Gerstner : " Dennoch ist mein Eindruck, die konjunkturellen Auswirkungen hielten sich in Grenzen. " Aber in den Gemeindekassen machten sich enorme Rückgänge bei den Gewerbesteuern bemerkbar. Das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Wachstumsbeschleunigungsgesetz

werde für weitere Ausfälle sorgen.

" Bei den Investitionen der Wirtschaft leben wir aktuell auf einem anderen Stern ", so Gerstner in Anspielung auf drei große Projekte in Aschersleben und Bernburg, die kurz vor ihrer Inbetriebnahme stehen. Das erfordere auch eine weitere Verbesserung der Infrastruktur. Die B 6 n bei Ilberstedt werde bis zum Anschluss an die A 14 für geraume Zeit noch ein Nadelöhr bleiben. Parallel dazu werde bereits an der Weiterführung in Richtung Osten gebaut. " Die ersten Erdarbeiten im Bereich der Ortsumfahrung Bernburg sind realisiert ", berichtete der Landrat.

Gerstner sprach auch, die anstehende Strukturveränderung bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen an : " Die bereits in Bernburg und Schönebeck recht erfolgreich praktizierte kommunale Verantwortung durch die KoBa beziehungsweise das Amt für Arbeitsförderung wird auf den Bereich Aschersleben-Staßfurt ausgeweitet. " Gerstner kündigte auch weitere Ordnung des Öffentlichen Nahverkehrs an.

Unaufschiebbar sei auch das noch kompliziertere Thema, die zukünftige Gestaltung der Kliniklandschaft im Salzlandkreis. " Wenn bis 2020 innerhalb von vierzig Jahren 40 Prozent weniger Menschen im Gebiet des Salzlandkreises leben, bleiben nicht nur die Wohnungen und Häuser unbewohnt, auch die Infrastruktur muss angepasst werden ", sagte Gerstner. Dies sei eine undankbare Aufgabe. Position im aktuellen Klinikstreit bezog der Landrat nicht.

Der Erlös des diesjährigen Neujahrsempfangs, immerhin rund 5000 Euro, soll zu gleichen Teilen den Theaterfördervereinen in Bernburg und in Staßfurt zugute kommen, teilten die Veranstalter mit.