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Seit einem halben Jahr läuft in Sachsen-Anhalt ein Programm für Schulsozialarbeit / Ein Besuch an einer Magdeburger Sekundarschule Für Schüler da sein, wo andere es nicht sind

Von Philipp Hoffmann 23.10.2009, 04:55

Sachsen-Anhalt hat im Frühjahr mit Hilfe der Europäischen Union ein Schulsozialarbeit-Programm gegen das Schulversagen gestartet. Ziel ist, die Quote der Schüler ohne Hauptschulabschluss zu senken. Von dem 59-Millionen-Euro-Programm profitieren 180 Schulprojekte. Eines davon läuft an der Thomas-Mann-Sekundarschule in Magdeburg.

Magdeburg. Anja Bendler hat es eilig, sie muss zu einer Besprechung mit anderen Sozialarbeitern. Doch als zwei Schülerinnen mit bedrückter Miene das Büro betreten, lässt die Sozialarbeiterin die Besprechung Besprechung sein und nimmt sich Zeit für die Mädchen. " Habt ihr wieder Ärger mit eurer Mitschülerin ?", fragt sie mitfühlend. Die Mädchen sind erleichtert, dass sie ihrem Frust Luft machen können. " Meine Eltern hören mir nicht richtig zu ", klagt die eine.

Dann erzählen sie von der Mitschülerin, die sie beschimpft und schlägt : " Es macht ihr Spaß, uns zu ärgern. " Anja Bendler rät den Mädchen zusammenzuhalten, ihrer Mitschülerin aus dem Weg zu gehen und alles aufzuschreiben, was passiert. " Möglich, dass wir dann eine Streitschlichtung machen. "

Die Thomas-Mann-Schule im östlichen Magdeburger Stadtteil Cracau wirkt nicht so, als ob sie unbedingt Sozialarbeiter nötig hätte. Das in freundlichem Gelb gestrichene Gebäude, in dem auch eine Grundschule ihr Quartier hat, ist für seine 40 Jahre relativ gut in Schuss, die Schülerzahl mit 225 vergleichsweise überschaubar. Und das Einzugsgebiet der Schule, im Volksmund Ostelbien genannt, gehört nicht eben zu den sozialen Brennpunkten in Magdeburg.

" Probleme, die

wir kaum allein

lösen können "

Doch Schulleiter Thomas Maeder sieht dort nicht minder breitgefächerte Probleme als anderswo. Er führt vor allem die vielfältigen Cliquen im Stadtteil an, mit einem Gruppenzwang, der Kinder und Jugendliche schnell zu sozialen Problemfällen werden lasse. Etwa, wenn arbeitslose Jugendliche Schülern vorlebten, dass es auch ohne Schule ginge. " Es entstehen Probleme, die in die Schule hineingetragen werden und die wir kaum allein anpacken, geschweige denn lösen können ", sagt Maeder. " Dafür brauchen wir gut ausgebildete Sozialarbeiter. "

Im vergangenen Schuljahr kamen drei Schüler gar nicht mehr zur Thomas-Mann-Schule. Alle Versuche, sie zur Rückkehr zu bewegen – vom guten Zureden bis zur Zwangsvorführung – halfen nichts. Dann nahmen Anja Bendler und Christian Jüdicke ihre Arbeit als Sozialarbeiter auf. Wenige Wochen später gingen zwei der drei Jugendlichen wieder zur Schule.

" Wir haben einfach mal vorsichtig nachgefragt bei den Schülern ", erzählt Anja Bendler. " Und ihnen gezeigt, dass wir ihr Schwänzen erst einmal nicht bewerten. " Anschließend boten sie den Jugendlichen Lösungsvorschläge an. " Wir haben ihnen erklärt, warum zu Hause bleiben keine Lösung ist. "

Spätestens seit dieser Geschichte haben Anja Bendler ( 30 ) und Christian Jüdicke ( 25 ), die beide an der Hochschule Magdeburg-Stendal soziale Arbeit studierten und sich nun eine Vollzeitstelle teilen, bei Schulleiter Maeder einen Stein im Brett. " Ich bin froh, dass wir hier zwei Leute haben, die es richtig gut können ", sagt er. " Mit ganz vielen Ideen und Initiativen bereichern sie den Schulalltag. " Maeder freut sich auch darüber, endlich einmal wieder junge Leute im Kollegium zu haben – kein Lehrer ist jünger als 45 Jahre.

Der Schulleiter hat das vom Magdeburger Verein " Spielwagen " getragene Sozialarbeit-Projekt selbst angeschoben. " Sozialarbeiter sind in Schulen genauso wichtig wie Lehrer ", ist er überzeugt. Und hofft, dass sich die Unterstützung angesichts der " wachsenden Probleme " von Kindern und Jugendlichen nicht wieder auf ein befristetes Projekt beschränkt wie 1998 bis 2003, als es schon einmal ein Schulsozialarbeit-Programm in Sachsen-Anhalt gab.

Wieder klopft es an der Bürotür der Sozialarbeiter. Diesmal ist es eine Lehrerin. Christin Thormann sucht Unterstützung für einen Elternabend. Sie will ein Problem anpacken, das es überall an Schulen gibt : Schüler machen sich im Internet zum gläsernen Menschen, indem sie sich in Foren mit vollem Namen eintragen und private Bilder dazustellen. Gleichzeitig bieten diese Foren Raum für das Mobbing : Schüler machen dort andere herunter.

Die Lehrerin hat weitere Punkte auf dem Zettel, bittet die Sozialarbeiter um Ideen für eine Klassenfahrt. Anja Bendler und Christian Jüdicke haben für einige Klassen bereits " erlebnispädagogische Tage " auf einem Bio-Bauernhof organisiert. Schüler und Lehrer waren begeistert.

Dann kommt die Rede auf einen auffälligen Schüler, der laut Anja Bendler mit heimischen Problemen zu kämpfen hat und " sehr, sehr viel Aufmerksamkeit " braucht. Christian Jüdicke bietet an, ihn wieder in die Einzelfallhilfe aufzunehmen : Regelmäßig setzt er sich nach dem Unterricht mit Schülern zu Vier-Augen-Gesprächen zusammen. Die Termine sind immer ausgebucht.

Wie gerufen steht plötzlich der betreffende Schüler in der Tür. Höflich bittet er um ein wenig Obst. " Bei uns ist er überhaupt nicht auffällig und hält sich an die Regeln ", erklärt Anja Bendler.

Die Sozialarbeiter, das ist in jeder Begegnung mit Schülern und Lehrern zu spüren, haben sich in der Thomas-Mann-Schule einen guten Stand erarbeitet. Jetzt hoffen sie, dass dies auch bei den Eltern gelingt. Auf eine erste Einladung zu einem Kaffeenachmittag gab es allerdings wenig Resonanz.

Klassensprechertreffen. Die Schüler bringen selbstgebastelte, mit einem Schlitz versehene Kästen mit. Nun wollen sie ihre Mitschüler ermuntern, auf Zetteln kundzutun, was ihnen in der Klasse gefällt und was nicht. Die " Meinungsboxen " sind eine der Anregungen, die die Sozialarbeiter den Klassensprechern auf einer zweitägigen Schulung mitgegeben haben.

Schulsozialarbeit, wie sie an der Magdeburger Thomas-Mann-Schule läuft, kommt dem Ideal nahe. " Es reicht nicht, sich auf scheiternde Schüler zu konzentrieren ", sagt Pädagogikprofessor Thomas Olk von der Universität Halle, der das Programm wissenschaftlich begleitet. Sozialarbeiter müssten sich allen Schülern öffnen, genauso den Lehrern und Eltern. Ziel müsse die Etablierung eines Systems sein, durch das Schulversagen frühzeitig wahrgenommen wird.

" Es reicht nicht,

sich auf Scheiternde

zu konzentrieren "

Große Pause. Auf dem Hof stürmen die Schüler auf Tische mit Obst zu. Noch vor der aktuellen Diskussion um ein Schulobstprogramm haben die Sozialarbeiter an der Magdeburger Thomas-Mann-Schule eine " gesunde Frühstückspause " eingeführt. Ein naher Lebensmittelmarkt kam der Bitte um Unterstützung nach – die Filialleiterin hatte bis zum Sommer selbst ein Kind an der Sekundarschule. Seither wird diese einmal die Woche kostenlos mit Obst beliefert.

Während sich die jüngeren Schüler um die Obsttische tummeln, schleicht ein Zehntklässler verstohlen mit einem Teller davon. Für die älteren Schüler ist Obst fassen nicht " cool ". Appetit haben sie trotzdem : Als der Schüler wenig später zurückkommt, ist der Teller leer.

• Das Programm zur Vermeidung von Schulversagen soll in Sachsen-Anhalt die Quote der Schüler ohne Hauptschulabschluss von zuletzt elf Prozent auf 8, 6 Prozent senken ( der Wert setzt sich aus als realistisch eingeschätzten Quoten an Sekundar- und Förderschulen zusammen ).

• Dafür sind 59 Millionen Euro bis 2013 veranschlagt, davon 44 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds ; den Rest trägt das Land.

• Die Förderung von Projekten zur Schulsozialarbeit ist eine von drei Säulen des Programms. Dabei stellen freie Träger der Jugendhilfe Sozialarbeiter an Schulen. Diese Projekte – knapp 180 im Land – werden mit durchschnittlich 50 000 Euro pro Jahr gefördert.

• Die zweite Säule ist die Förderung bildungsbezogener Angebote an Schulen, etwa Maßnahmen zur individuellen Förderung von Schülern. Hierfür stehen 2500 Euro pro Maßnahme und Schulhalbjahr bereit.

• Die dritte Säule sind 13 regionale Netzwerke gegen das Schulversagen, eines in jeder kreisfreien Stadt und jedem Landkreis ( außer Anhalt-Bitterfeld ). Kommunen und freie Träger entwickeln dabei regionale Konzepte gegen Schulversagen.

• Zudem gibt es in der Regionalstelle Sachsen-Anhalt der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung in Magdeburg eine zentrale Koordinierungsstelle

www. schulerfolg-sichern. de