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Praxisprojekt von Studierenden der Stendaler Hochschule analysiert Situation von Menschen auf den Dörfern im Kreis Rolf Horak: "Landleben macht behindert"

Von Egmar Gebert 28.10.2010, 06:15

Das Leben auf dem Land ist alles andere als erstrebenswert. Zumindest wird es von Menschen, die auf den Dörfern im Landkreis Stendal leben, so empfunden. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt ein Praxisprojekt der Stendaler Hochschule, während Studierende Interviews mit Dorfbewohnern im Kreis führten und die 500 Seiten gesammeltes Interview-Material wissenschaftlich analysierten.

Stendal. Vor etwa neun Monaten entstand die Idee zu dem Projekt. Angeregt durch die Arbeit der Bürgerinitiative Stendal (BIS), die in der Stadt Betreuungsangebote für ältere Bürger anbietet, näherte sich eine Handvoll Studierender der Frage, ob ähnliches auch im ländlichen Raum möglich wäre.

Zu weit gegriffen, stellte die Projektgruppe um den Reha-Psychologen Dr. Rolf Horak fest, denn: Würden die Leute das überhaupt wollen? Oder anders gefragt: Was wollen die Menschen auf dem Land? Was wissen wir über die Lebensbedingungen in den Dörfern? Wie lebt es sich dort? Wie fühlt sich Leben auf dem Land an?

Ran an das alltägliche Erleben

Mit der Erkenntnis: "Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden!", schlug Anfang März die Geburtsstunde für das Praxisprojekt des Studiengangs Rehabilitationspsychologie des Fachbereichs Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal.

15 Studierende nahmen sich vor, in Dörfern des Landkreises Stendal nach Antworten zu suchen. Inzwischen sind diese gefunden – und analysiert.

"Die Alltäglichkeit auf dem Lande, das persönliche Leben und Erleben der alltäglichen Situation. Das war es, wo wir ran wollten", leitete Dr. Rolf Horak die Vorstellung der Ergebnisse des Praxisprojekts "Leben auf dem Land – die Altmark als Lebensraum" ein. Eine wissenschaftliche Analyse des Ist-Zustandes ländlichen Lebens im Kreis Stendal, die durchaus repräsentativen Charakter habe, wie Horak am Ende der knapp zwei Stunden Projektpräsentation auf mehrfaches Nachfragen einiger daran zweifelnder Zuhörer sagte.

Leute fühlen sich im Stich gelassen

Zweifelnd deshalb, weil das Resümee der 30 in Dörfern geführten Interviews (jedes im Schnitt zwei Stunden lang), manchen im Saal erschreckte oder zu drastisch formuliert erschienen. Der Humanwissenschaftler Horak bediente sich starker Bilder, sprach zum Beispiel davon, dass vor allem ältere Menschen das Leben auf dem Land wie "im Knast" empfinden. Arztbesuche oder Einkaufsfahrten in die Stadt seien dann wie "Freigang" aus diesem Gefängnis. "Die Lebensgestaltung auf dem Land ist deutlich filigraner und zerbrechlicher als in der Stadt, wird durchgängig als wesentlich bedrohter empfunden", sagt Horak. Beklagt werde zum Beispiel, dass Versorgungsleistungen, die früher in nahezu jedem Dorf selbstverständlich waren, ersatzlos weggebrochen sind. Ältere Einwohner würden das als eine Art Kränkung erleben. "Man fühlt sich ausgeliefert, im Stich gelassen, was zu einer resignativen Haltung führt", formulierte es der Rehabilitationspsychologe. Die Beeinträchtigungen seien vielfältig, beträfen die Mobilität, die Arbeitsmöglichkeiten ebenso wie die soziale Integration oder die ökonomische Eigenständigkeit. Rolf Horak fasste es in einem Satz zusammen: "Landleben macht – unter den momentanen Bedingungen – behindert."

Grundlage für diese ernüchternde Bilanz sind die von den Studierenden während des Projekts auf 500 Seiten gesammelten Interviews. Diesen Part der Auswertungsveranstaltung übernahmen drei der am Projekt beteiligten Studierenden, Babett Jungblut, Katharina Toth und Susann Ratzer.

Der Zusammenhalt in den Dörfern, das Füreinanderda-sein, über Jahrzehnte vor allem durch die gemeinsame Arbeitswelt zum Beispiel in den LPG gewachsen, wäre früher schöner gewesen. Das ist eine dieser – in unterschiedlichen Worten formuliert –, immer wieder zu hörenden Interviewaussagen. Andere beklagen das Auseinanderdriften von in den Dörfern verwurzelten Familien, weil deren Kinder im Ort keine berufliche Perspektive mehr haben, oder das Sich-Zurückziehen der Bewohner aus dem dörflichen ins private Leben.

Dorfkonsum: Synonym für Gemeinschaft

Zumindest letzteres ist jedoch keine generelle Erfahrung, kein permanenter Zustand. Es gibt sie hier und da noch, die Aktivposten auf dem Lande, die Dorfabende, Rommeenachmittage, Vorträge organisieren. Traditionen wie die Maifeuer leben in den Dörfern und werden von jungen Leuten mit "Lust darauf" weitergeführt, erfuhren die Studierenden an anderer Stelle.

Nächstes Stichwort Dorfkonsum: Er stand nicht nur für Versorgung mit Lebensmitteln, er war Mittelpunkt im Dorf, funktionierende Schaltzentrale, sei sozusagen der "Brunnen" im Dorf gewesen, konstatiert Katharina Toth. "Wenn von dörflicher Gemeinschaft die Rede ist, dann war der Konsum ein Synonym für die – fast problemlose – Organisation der Gemeinschaft", lieferte sie einen der Ansatzpunkte für ein "Sofortprogramm", das die Studenten als eine Möglichkeit des Reagierens auf die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Analyse des Landlebens heute im Kreis Stendal in den Raum stellen.

Der Dorfkonsum sollte nach dieser Idee wiederentstehen, nicht als "ernst zu nehmende Einkaufsmöglichkeit", sondern als Dorfmittelpunkt, zwar mit einer kleinen Auswahl alltäglich benötigter Dinge, aber viel mehr als Treffpunkt mit Sitzmöglichkeiten, einem kleinen Dorfcafé oder einer Teestube. Allerdings – auch das stellt das studentische Praxisprojekt fest –, rechnen werde sich so ein "Konsum" nicht, müsste also ehrenamtlich betreut werden.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis wieder hin zum Ausgangspunkt – dem ehrenamtlichen Engagement, von dem auch die Stendaler Bürgerinitiative (BIS) lebt.

Der Finger liegt auf wunden Stellen

Ob solches Engagement ausreichen wird, um die Situation auf den Dörfern im Landkreis zu ändern, ist fraglich. Doch diese Frage zu beantworten, war nicht Gegenstand des Praxisprojekts der Stendaler Hochschule. Ihm ging es um eine Darstellung dessen, was derzeit ist. Amtsärztin Dr. Iris Schubert, eine der interessierten Zuhörerinnen während der Präsentationsveranstaltung, verstand sie denn auch als "gute Grundlage", um daraus Überlegungen zu entwickeln, was zu tun ist, um das Erleben von Landleben zu einem positiveren werden zu lassen. Landleben müsse wieder viel mehr als lebenswert empfunden werden, sagte die Amtsärztin.

Eine Forderung, die BIS-Vorsitzende Marion Mohr zu allererst an die Politik richtete. "Solche Studien sind gut und wünschenswert, weil sie den Finger auf wunde Stellen legen. Lösungsangebote muss die Politik erarbeiten."