1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Stendal
  6. >
  7. "Aufklären und erzählen, wie es gewesen ist"

"Aufklären und erzählen, wie es gewesen ist"

07.02.2014, 01:18

Zu der Diskussion über die Lesung des Autors Roman Grafe an der Comenius-Sekundarschule und über den Umgang mit DDR-Geschichte gibt es weitere Leserreaktionen:

Dass man sich in einer "Diktatur geborgen fühlen kann", muss den Angehörigen der Mauertoten wie blanker Hohn vorkommen. Die DDR war ein Schandfleck in der deutschen Geschichte; Millionen Menschen können nun endlich über ihr Leben frei entscheiden. Ich selbst bin Jahrgang 1990 und werde alles dafür tun, dass meine Kinder nicht von solchem "Lehrpersonal" unterrichtet werden. Kein Argument kann einen Schießbefehl auf die eigene Bevölkerung wettmachen, vollkommen egal, ob etwas anderes besser war. Ich danke Herrn Grafe, dass er national aufklärt, welche Zustände hier noch immer herrschen. Ich schäme mich für meine Heimat, wenn ich feststellen muss, welch menschenverachtende Ideologie scheinbar noch immer in einigen Köpfen besteht.

Ulrich Siegmund, Tangermünde

Als Schülerin auf zwei verschiedenen DDR-Schulen erfuhr ich von meinem 6. bis 16. Lebensjahr Ausgrenzung und Diskriminierung. Da ich nicht zu den Pionieren gehörte, jedoch zur Christenlehre ging und konfirmiert wurde, galt ich von Anfang an als staatsfeindlich und nicht dazugehörend. Besonders als Erstklässlerin irritierte mich, dass ich in der hintersten Reihe "versteckt" wurde (ich trug ja kein Halstuch), nicht mitsingen durfte oder bei Veranstaltungen draußen bleiben musste. Dabei wurde ich von meinen Klassenkameraden gemocht, war eine gute bis sehr gute Schülerin, fröhlich, hilfsbereit und eigentlich gerne in der Schule.

Ernster wurde es, als ich mit einem Durchschnitt von 1,5 nicht auf die Erweiterte Oberschule durfte, die Leistungen seien "nicht ausreichend gut", Bewerber für die Offizierslaufbahn durften dagegen mit einem deutlich schlechteren Abschluss die Oberschule besuchen. Eingaben meines Vaters blieben unbeantwortet. Manchmal spürte ich das Mitleid einzelner Lehrer, insgesamt vielleicht auch Gleichgültigkeit einem einzelnen Schicksal gegenüber, doch oft die Ansage, ich könnte es ja ändern, ich müsste eben nur mitmachen.

Eine Ausbildung für mich fand sich letztendlich in einer kirchlichen Einrichtung. Heute lebe ich nicht in den neuen Bundesländern, meine Kinder sollen nicht an Schulen gehen, in denen Lehrer unterrichten, die es bis heute nicht verstanden haben, dass sie Diener eines totalitären Systems gewesen sind.

Umso wichtiger ist es, aufzuklären, zu erzählen, zu beschreiben, wie es gewesen ist, und das müssen die Menschen tun, die Unrecht erfahren haben, die ihre Zukunft verloren, deren Kinder keine normale Bildungsbiografie hatten, die nicht in ihren Berufen arbeiten durften und nicht das sagen durften, was sie denken und glauben. Darum bin ich für eine Aufklärung der Situation an der Comenius-Schule Stendal, mit der Hoffnung und der Forderung, Wahrheit zu fördern, Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu ermöglichen und den Leuten das Handwerk zu legen, die bis heute verklären und beschönigen und nicht fähig sind, reflektiert die schwarzen Schattenseiten des DDR-Regimes zu benennen.

Cordula Peker,

Hamburg

Da äußert sich der bildungspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Hardy Güssau, dass er mit seiner Meinungsäußerung zu den Vorkommnissen in der Comenius-Schule Stendal bis zum Abschluss der Gespräche, die nach den Winterferien beginnen sollen, warten möchte. Das ist eine Haltung, die ich besonders durch den Verlauf der öffentlichen Diskussion über die Lesung von Roman Grafe auf keinen Fall verstehen kann.

Es besteht doch erkennbar die Notwendigkeit, der Bevölkerung zunächst einmal klar zu vermitteln, worin der Bildungsauftrag des Landes Sachsen-Anhalt besteht, welches Leitbild und welches Selbstverständnis das Land vertritt, besonders aber, welche Aufgabe dabei den Lehrerinnen und Lehrern zukommt. Das wäre in erster Linie die Aufgabe von Herrn Güssau gewesen und nicht darauf zu warten, Schiedsrichter spielen zu dürfen.

Ich bin selbst Lehrerin und habe zwei Kinder. Ich kann mir nach allem, was ich im Zusammenhang mit der Lesung von Roman Grafe einschließlich der Leserbriefe - besonders aber wie verantwortungslos das Kultusministerium und der in Stendal wohnende bildungspolitische Sprecher der Landtagsfraktion der Regierungspartei CDU diese Angelegenheit haben treiben lassen -, gegenwärtig nicht vorstellen, in Sachsen-Anhalt als Lehrerin tätig werden zu wollen und noch weniger, meine Kinder dort zur Schule gehen zu lassen.

Man kann dem Kultusministerium nur wünschen, dass es begreift, was es mit seiner Verschleppungspolitik angerichtet hat.

Gisa Schütze,

Berlin

Roman Grafe ist auf den richtigen Zug aufgesprungen: Aufarbeitung der DDR-Diktatur im Sinne der "Politischen Korrektheit" an Mauer, Stacheldraht, Stasi und Menschenrechtsverletzungen festzumachen. So vermittelt er sie den Schülern, die das allumfassende Leben in der DDR nicht kennengelernt haben. Das hatte aber auch andere, ganz normale, zum Teil sogar bessere Aspekte als heute. Das versucht man auszublenden. Das Recht auf Arbeit stand in der Verfassung und war als wirkliche Vollbeschäftigung auch umgesetzt. Die Sozialgesetzgebung zielte auf Förderung der Familie durch zinslosen Ehekredit, der "abgekindert" werden konnte, auf bevorzugte Zuweisung einer Wohnung für junge Eheleute, durch flächendeckende kostengünstige Kinderbetreuung mit planvoller Vorbereitung auf die Schule durch ausgebildete Erzieherinnen, Letzteres auch in den Betriebskindergärten. Das Bildungswesen war einheitlich strukturiert und wurde getragen von der Zusammenarbeit zwischen Schule, Hort und Elternhaus. Jedem Abgänger war ein Ausbildungsplatz gesichert. Das Gesundheitswesen war absolut kostenlos, heute unglaublich.

Die Gleichberechtigung der Frau bedeutete auch gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Vielen im Osten erscheint das erst schätzenswert, nachdem wir mit den vielen Unzulänglichkeiten, besonders der Arbeitslosigkeit, in der "Demokratie" konfrontiert worden sind. Die soziale Sicherheit ist uns verlorengegangen. Wer dem Staat in der DDR politisch die Stirn bot, hatte mit vorhersehbaren Konsequenzen zu rechnen. Anpassung sicherte also die Existenz. Werden heute nicht auch Existenzen durch Nichtanpassung oder sogar kleine Vergehen im betrieblichen Alltag zerstört?

Wenn die Meinungsfreiheit in der Verfassung eines der höchsten Güter ist, darf eine Lehrerin die ihrige über die DDR nicht auch äußern, ohne um Lohn und Brot fürchten zu müssen? Unsere Vergleiche hier im Osten können durch unsere doppelten Erfahrungen nicht einseitig ausfallen!

Ursula Böwe,

Stendal