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Vortrag über die Kriegsversehrten des Ersten Weltkrieges/ Das Dilemma der "Kriegszitterer" Nah-Tod-Erfahrungen und Elektroschocks

Von Nadin Hänsch 10.04.2014, 03:20

Die Studentin Petra Kaiser referierte im Rahmen der Ausstellung "Heimat im Krieg" im Altmärkischem Museum über die verdrängten Opfer des Ersten Weltkrieges.

Stendal l "Ich möchte Ihnen das Leid der Soldaten im Ersten Weltkrieg näherbringen." Mit diesen Worten begann Petra Kaiser, Studentin an der Magdeburger Universität, ihren Vortrag am vergangenen Dienstag in der Katharinenkirche.

"Am schwersten hatten es die sogenannten Kriegszitterer", erzählt Kaiser. Das Zittern trat auf, wenn die Soldaten in Schützengräben unter eingestürzten Wänden tagelang verschüttet waren. Auch der ständige Dauerbeschuss an der Front sorgte für große nervliche Anspannung. "Die Schreie von Verwundeten, aber auch der Tod von Kameraden im selben Schützengraben und dauerhaftes Hungergefühl machten die Soldaten unfähig, eine Waffe zu halten", erzählt die Referentin.

In solchen Fällen wurden die "Zitterer" mittels Lazarettzügen nach Hause geschickt, um sich eine kurze Zeit zu erholen. "Diese Bewährungszeit führte dazu, dass nach einer kurzen Ruhepause die Symptome, das Zittern am ganzen Körper und das unartikulierte Reden, verschwanden", sagt Kaiser. Doch die Militärärzte schickten die Betroffenen wieder an die Front. Am Ende führte das auf direktem Weg in eine Heilanstalt.

Doch auch die Psychiatrieärzte waren mit den Symptomen überfordert. "Psychisch und physisch Versehrte wurden beim Transport in den Lazarettzügen getrennt, denn die Ärzte glaubten, die Kriegsneurotiker könnten ansteckend sein", erzählt Kaiser. Die psychisch Kranken durchlebten Qualen in den Heilanstalten. "Die Psychiatrieärzte sahen zwar, dass die Soldaten Reaktionen durch einen Schock zeigten, versuchten aber, den Patienten dazu zu bringen, durch erneute Schocks, den alten zu vergessen."

Patienten wurden in eiskaltes Wasser gesetzt

Aus der Hilflosigkeit der Ärzte heraus entstanden Therapien, wie die "Kaufmann-Kuren". "Dabei wurden die Patienten tagelang in ein eiskaltes Wasserbad gesetzt", erklärt die Studentin. Am brutalsten waren die Elektroschocktherapie und die Nahtod-Erfahrung. Bei Letzterem wurden dem Patienten Metallkugeln in die Luftröhre bis zum Ersticken eingeführt.

Nach heutigem Wissen waren die Therapien wirkungslos und verschlimmerten die Zustände der Kriegsversehrten nur noch mehr. "Es gab keine Behandlung, die zur Genesung beitrug, und keine Anerkennung der Krankheit, besonders keine Anerkennung in der Kriegsgesellschaft", erzählt Kaiser. Weder im, noch nach dem Krieg war dies der Fall. "Manche von ihnen waren sogar solange in Behandlung in den Heilanstalten, dass sie noch das Schicksal der Euthanasie-Morde im Nationalsozialismus traf."

In Deutschland gab es aus dem Ersten Weltkrieg 4,8 Millionen Kriegsversehrte. Von denen wurden 700000 als dienstuntauglich aus dem Armeedienst entlassen, 90000 waren "Kriegskrüppel". Es sei schwer gewesen, die psychisch Versehrten zu erfassen, erzählt die Studentin. Laut Heeresbericht waren es über 600000 "Kriegszitterer", die als dienstuntauglich entlassen wurden.

"Anfang September 1914 trafen die ersten Verletzten in Stendal ein", erzählt Kaiser. Das Rote Kreuz sammelte damals "Liebesgaben" für die Soldaten an der Front. "Es wurde genau vorgegeben, was in den Paketen enthalten sein sollte", erzählt die Referentin.

Mehr Seuchentote als Kriegsgefallene

Im November 1914 wurden 2904 Pakete mit Liebesgaben aus Stendal an die Front geschickt. Über Tausende Paar Strümpfe, Hemden, Unterhosen und Jacken wurden für die Soldaten gesammelt. Besonders wichtig waren die Tabakwaren. Insgesamt gingen 116000 Zigarren an die Front. Die Pakete sollten das Leid lindern.

Die Soldaten kämpften wegen der schlechten hygienischen Zustände gegen Infektionskrankheiten und Seuchen. "Infektionen, wie Typhus und Ruhr, sorgten für mehr Tote an der Ostfront, als es gefallene Soldaten an der Westfront gab", betont Kaiser.