Tod eines Ehepaares

07.06.2014, 01:20

Dass es so kam, wollten sie beide nicht. Der Grundsatz ihres Altwerdens lautete: den Kindern nicht zur Last fallen.

Sie lebten als Selbstversorger in ihrem Haus. Die Frau hatte schwerste Arthrosen. Die Kellertreppe war tief und steil. Einmal fiel sie hinunter. Seitdem mied sie den Keller. Die Lebensmittel verschimmelten, denn ihr Mann war ebenfalls immer gangunsicherer geworden. Treppen stellten eine Gefahr dar. Er, der nächtliches Arbeiten gewohnt war, saß zu gerne lesend und Wein trinkend - oft bis nach Mitternacht - im Sessel. Beim Aufstehen wurde ihm so manches Mal schwindelig, immer öfter fiel er hin.

Irgendwann konnte er nicht mehr von allein aufstehen. Sie, die schon immer Stunden früher zu Bett ging, fand ihn oft vor dem Sessel auf dem Boden liegend, doch wegen ihrer schweren Arthrose konnte sie ihn nicht hochheben. So gab sie ihm ein oder zwei Hiebe "aufmunternd" mit dem Krückstock, wütend weil es immer wieder - wohl auch wegen des Alkoholkonsums - passierte.

Die Eigenständigkeit war zur Illusion geworden, schweren Herzens zogen sie in ein Heim. Bei ihm setzte über die folgenden Jahre neben dem körperlichen ein geistiger Verfall ein, den er selbst bewusst realisierte, der ihm so ungeheuer peinlich war, dass er keinen Besuch mehr haben wollte. Arztbesuche waren ihm zuwider. "Es lohnt nicht mehr", waren seine Worte. So starb er, wie er es niemals wollte: im köperlichen und geistigen Verfall.

Gnädiges Ende nach gnadenloser Zeit

Seine Frau wurde im Rollstuhl an sein Grab gefahren. Sie ertrug alles regungslos und trauerte tief, still, für viele unbemerkt. Später erschien er ihr immer wieder in ihren Träumen und die fast bewegungsunfähige Frau machte mit ihm wie einst Spaziergänge durch blühende Felder, an Meeresstränden entlang.

Wenig später raubte ihr ein Schlaganfall einen großen Teil des Sehvermögens. Nun war Lesen unmöglich, nun hörte sie trotz eklatanter Schwerhörigkeit stundenlang alte Kirchenlieder, die sie meistens mitsang. Doch der Schein trügte. Die wenigen ihr noch gegebenen Jahre litt sie unter Einsamkeit und weinte so manche Tage bitterlich. In großer Zahl hatten sich Alterswarzen über das Gesicht ausgebreitet. "Wer will schon eine fast blinde, taube, hässliche alte Frau im Rollstuhl sehen" und einzig der Besuch der Kinder und Enkelkinder war Anlass zur Freude.

Die körperliche Schwäche der Hochbetagten wurde immer größer. Sitzen war nicht mehr möglich, der Oberkörper fiel zur Seite. Eines Morgens lag sie leblos im Bett - durch einen gnädigen Tod erlöst.

Furchtbar aber wahr: Je gnädiger uns der Tod erscheint, um so gnadenloser die Zeit vor seinem Eintreten.

Professor Ulrich Nellessen ist Ärztlicher Direktor des Johanniter-Krankenhauses Genthin-Stendal und kommt an dieser Stelle einmal im Monat zu Wort