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Geschichtskurs "Musste man in der DDR hungern?"

Was wisst Ihr eigentlich über die DDR? Jeder von uns hat Verwandte, die
Geschichten dazu erzählen können. Diese wollen sich Schüler der BBS II
in Stendal nun genauer anhören. Sie planen auch eine Exkursion nach
Berlin.

Von Christian Bark 01.10.2014, 03:04

Stendal l "Versetzt Euch mal alle ein Vierteljahrhundert zurück in die Vergangenheit", fordert Geschichtslehrer Olaf Boese seine Schüler auf, um sie auf eine Reise in die Zeit der deutschen Teilung mitzunehmen. Keiner der Elftklässler des Fachgymnasiums an den Berufbildenden Schulen II (BBS II) in Stendal war beim Fall der Mauer 1989 oder bei der deutschen Wiedervereinigung 1990 schon geboren.

Die Ereignisse zur Wendezeit scheinen für die Schüler weit weg hinter dem staubigen Vorhang der Geschichte zu liegen. Trotzdem hat jeder einzelne von ihnen auf irgendeine Weise eine Verbindung zu dem Thema, sei es über die Erlebnisse ihrer Eltern, Großeltern oder eigene Erfahrungen bei der Unterscheidung zwischen Ost und West.

Wenn der Lehrer zum Zeitzeugen wird

Die anfängliche Langeweile der Schüler, mal wieder ein trockenes Geschichtsthema durchzukauen, wandelt sich während des Unterrichts in verhaltenes und bei manchem auch in starkes Interesse an den Geschehnissen zwischen 1989 und 1990.

Olaf Boese hält einen Zeitungsausschnitt, ein Kalenderblatt, in die Runde. "Heute vor 25 Jahren durften die DDR-Flüchtlinge die Prager Botschaft verlassen", sagt Boese. Von diesem Ereignis will er sich mit seinen Schülern über die Maueröffnung in Berlin bis hin zur Nachwendezeit in der Altmark auseinandersetzten. Bis zur nächsten Geschichtsstunde sollen die Jugendlichen ihre Eltern und Großeltern fragen, wie sie die DDR erlebt haben. "Da ist gleich der persönliche Bezug da. So will ich das Interesse der Schüler wecken", erklärt der Geschichtslehrer. Doch in dieser Stunde schlüpft Olaf Boese selbst in die Rolle des Zeitzeugen. Als die Mauer fiel, war er 19 Jahre alt und bei der Armee im sächsischen Zittau.

"Haben Sie damals mitbekommen, dass sie überwacht werden?", will der 17-jährige Tino wissen. "Persönlich nicht, aber Bekannte von uns hatten darunter zu leiden", antwortet ihm der Geschichtslehrer. Einmal sei er aber mal verhaftet worden, erinnert sich Boese. Als er 1988 ohne Ausweis länger vor der sowjetischen Botschaft in Berlin stand, um das Bauwerk von außen zu betrachten.

Die Frage aus den Reihen der Schüler, ob er auch in der Jugendorganisation FDJ war, bejaht Olaf Boese. "Ich wollte damals schon Lehrer werden, da musste ich mehr Linientreue an den Tag legen", erklärt er. Wenn Boese an seinen Geschichtsunterricht zurückdenkt, erinnert er sich daran, dass häufig nur eine Meinung zulässig war, historische Fakten ideologisch verdreht oder überhaupt nicht zur Sprache kamen. Klausurfragen hätten theoretisch schon im Voraus beantwortet werden können. "Aus heutiger Sicht wäre ich in der DDR nicht gern Geschichtslehrer geworden", zieht der 44-Jährige sein Fazit.

"Musste man in der DDR hungern?", fragt der 16-jährige Philip. "Anfangs schon, noch bis Ende der 50er Jahre gab es Lebensmittelkarten", erklärt Olaf Boese seinen Schülern. Seine Eltern hätten ein Jahr lang Lebensmittelkarten gesammelt, um alle Gäste bei ihrer Hochzeit 1958 satt zu bekommen. Er selbst habe jedoch immer genug zu Essen gehabt, bis auf Südfrüchte und einige Genussmittel.

"Hat sich hier in der Altmark nach der Maueröffnung auch gleich was getan?", will die 18-jährige Lina von ihrem Geschichtslehrer wissen. Olaf Boese führt das Beispiel der Lebensmittelkette Aldi an. Die hätte 1990 gleich in alten Scheunen erste Filialen eröffnet, besonders in grenznahen Regionen wie der Altmark sei das schnell gegangen.

"Fragt doch demnächst mal Eure Eltern, was sie sich von ihrem ersten Begrüßungsgeld im Westen gekauft haben", empfiehlt Olaf Boese den Jugendlichen. "Ich bin sicher, die wissen das noch genau." Er habe sich von den 100 Mark unter anderem eine Platte von Phil Collins zugelegt.

Klasse fährt zum Ort des Geschehens

Mit dem Projekt will Olaf Boese erreichen, dass seine Schüler sich über Geschichten ihrer Eltern und Großeltern im Unterricht austauschen, lernen, mit Quellen wie Wirtschaftsberichten aus dieser Zeit umzugehen. "Wir arbeiten gut mit der Landesbehörde für Stasi-Unterlagen in Magdeburg zusammen", sagt Boese. Außerdem soll es am 9. November, am Tag, als in Berlin die Grenze geöffnet wurde, in die Bundeshauptstadt gehen. Dort will der Kurs die Plätze aufsuchen, an denen vor 25 Jahren Geschichte passierte.

Das Projekt ist das erste dieser Art an der BBS. Laut Olaf Boese soll es im kommenden Jahr zum 25. Jubiläum der deutschen Einheit erneut stattfinden.