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Wie Wahlleiter eine Briefwahl bestätigen lassen wollten, deren Ergebnis nicht korrekt sein konnte Am 3. Juli ist die erste Fälschung klar

Stendal hat 2014 landesweit Schlagzeilen gemacht. Die Stadtratswahl dürfte 2015 komplett wiederholt werden. Die massive Fälschung der Briefwahl lässt kein reguläres Ergebnis zu. Wie konnte es dazu kommen? Zweiter Teil einer Spurensuche.

07.01.2015, 01:12

Stendal l "20fach besser bei der Briefwahl" titelte die Stendaler Volksstimme am 4. Juni. Am Tag zuvor lag erst die komplette Einzelauswertung der Briefwahlergebnisse aus dem Rathaus vor: CDU-Kandidat Holger Gebhardt erreichte mit 689 Stimmen ein sensationelles Ergebnis. Der Hinterbänkler bekam mehr als jede zehnte Briefwahlstimme und erzielte hier ein besseres Resultat als die prominentesten Bewerber Katrin Kunert (Linke) und Hardy Peter Güssau (CDU).

Formal sei alles korrekt gelaufen, eine Manipulation schließe er aus, entgegnet Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt (CDU) dazu vor dem Wahlausschuss. Auch eine Woche später betont Rathaussprecher Klaus Ortmann, alles sei in Ordnung, lässt aber ein Hintertürchen offen: "Die Prüfung, ob sonstige Verfahrensfehler vorliegen, ist noch nicht abgeschlossen."

Am 13. Juni entdeckt das Rathaus die Panne

Es ist der 13. Juni. Ein Freitag. Der Auftakt fürs Rolandfest. Doch auch im Rathaus geht es hoch her. "Im Verlauf des 13. Juni haben wir festgestellt, dass an mehrere Vertreter mehr als vier Briefwahlunterlagen ausgereicht wurden. Damit war mir der Verfahrensfehler bekannt. Jedoch war zu diesem Zeitpunkt noch offen, ob und wie sich dieser Fehler auf das Wahlergebnis auswirken würde", antwortet Kleefeldt rückblickend im Juli auf Fragen der Volksstimme.

An die Öffentlichkeit geht der Stadtwahlleiter erst zwei Wochen später, am 26. Juni: In 179 Fällen (die Stadt korrigiert später auf 189) hätten zwölf Bevollmächtigte mehr als die vier erlaubten Unterlagen erhalten.

In seiner eilig einberufenen Pressekonferenz macht der Stadtwahlleiter keinen Hehl daraus, dass er eine Wiederholung der Briefwahl für geboten hält. Er überlegt sogar, ob dann auch die Nichtwähler vom 25. Mai wahlberechtigt seien. Auch Kreiswahlleiter Carsten Wulfänger legt Einspruch gegen die Kreistagswahl ein.

Vieles ist zu diesem Zeitpunkt offen. Klar ist aber: Kleefeldt kennt die Namen der zwölf Bevollmächtigten. Er weiß, dass einer davon CDU-Kreischef Wolfgang Kühnel ist. Wulfänger erhält die Namen wenig später auch - betont aber, diese in einem verschlossenen Umschlag ungelesen in den Tresor gelegt zu haben.

Ein Hinweis per Fax vom Landeswahlleiter

Eine andere Merkwürdigkeit spielen beide Wahlleiter herunter: Zehn Wahlberechtigte wollten am 25. Mai in Wahllokalen der Stadt ihre Stimmen abgeben. Doch sie waren bereits als Briefwähler registriert. Da man sie wählen ließ und ihre Briefwahlunterlagen aussortierte, spielten sie bei Wulfänger und Kleefeldt keine Rolle bei der Frage, ob das Wahlergebnis verfälscht sein könnte. Doch bei ihnen lag alsbald der Schlüssel, der die Fälschungen aufdeckte.

Allerdings geht es zunächst wahlrechtlich um die Frage, ob die mehr als 500 Stimmen die Zusammensetzung von Kreistag und Stadtrat beeinflusst haben könnten.

Im Büro des Landrates geht am 3. Juli um 15.05 Uhr eine Mail aus der Geschäftsstelle des Landeswahlleiters ein. Diese erlaubt sich einen Hinweis: "Bei der Prüfung der Erheblichkeit eines Wahlfehlers ist darauf abzustellen, ob ohne diesen ein ,wesentlich anderes Wahlergebnis` zustande gekommen oder festgestellt worden wäre. Ein wesentlicher Einfluss auf das Wahlergebnis liegt nur dann vor, wenn die Sitz- verteilung in der neu gewählten Vertretung (Kreistag) ohne die vorgekommenen Wahl- verstöße anders ausgefallen wäre oder hätte ausfallen können."

Das wäre in beiden Fällen der Fall. Beim Kreistag ist im Wahlbereich Stendal die geringste Differenz bei den Grünen - 30 Stimmen Unterschied. Im Stadtrat liegt eine Linke-Kandidatin ganze vier und eine FDP-Bewerberin nur sieben Stimmen hinter dem Platz, der einen Sitz bedeutet hätte.

Wulfänger liegt gleich doppelt falsch

Doch darauf geht Wulfänger zwei Stunden später mit keiner Silbe ein. Der Landrat arbeitet sich vielmehr daran ab, ob die Unterschriften korrekt waren. "Die Personen haben die eidesstattliche Versicherung eigenhändig unterschrieben. Damit ist der Wählerwille gewahrt", plädiert er für eine Anerkennung des Wahlergebnisses.

Dies ist gleich doppelt falsch. Wie man heute weiß, haben die Unterschriftenprüfer des Kreises mehr als 50 Fälschungen nicht als solche erkannt. Aber selbst wenn diese korrekt gewesen wären, wäre zwar der Wählerwille gewahrt gewesen, nicht aber die in der Kommunalwahlordnung festgelegten Grundsätze der Wahl. Allein dieser Verstoß der zuviel ausgegebenen Wahlscheine an die zwölf Bevollmächtigten, der theoretisch aufgrund der hohen Stimmenzahl die Zusammensetzung des Kreistags hätte verändern können, machte eine Wiederholung der Kreistagswahl eigentlich unumgänglich.

Doch der Kreistag folgt Wulfänger mit etlichen Gegenstimmen, nachdem der Antrag auf Vertagung des Punktes zuvor recht knapp gescheitert war.

CDU-Fraktionschef Wolfgang Kühnel, damals noch unbekannter Bevollmächtigter, hätte in der Sitzung einige Punkte aufklären können. Er thematisiert dort indes seine Rolle nicht, sondern drischt vielmehr auf den Stadtwahlleiter ein, der den Verfahrensfehler seiner Verwaltung zu verantworten habe.

Hatte Wulfänger die Mail aus Magdeburg gar nicht gelesen? Wusste er wirklich nicht, dass Wolfgang Kühnel ein Teil des Problems ist? Warum schwieg der mit allen Wassern gewaschene CDU-Stratege Kühnel zu seiner Rolle, watschte stattdessen den Stadtwahlleiter ab? Drei Parteifreunde - es wäre zu spannend und wahrscheinlich aufschlussreich, wenn man wüsste, wer da wann mit wem was besprochen hat.

Stadtwahlleiter dreht sich um 180 Grad

Axel Kleefeldt erhält einen Tag später eine ähnliche Mail vom Landeswahlleiter. Doch der Stadtwahlleiter vollzieht wenige Tage danach am 7. Juli auf der Sitzung des Stadtrates eine Kehrtwende um 180 Grad - und empfiehlt nach Wulfängers Vorbild, das Wahlergebnis zu bestätigten. Warum macht er das?

Die neue Ratsmehrheit aus Linke, SPD, FDP und Piraten überstimmt hier CDU, Landgemeinden, Grüne samt Oberbürgermeister, die Kleefeldts Vorschlag folgen. Die Briefwahl für den Stadtrat muss wiederholt werden.

Das gleiche Problem, dieselbe Wirkung, zwei unterschiedliche Entscheidungen im Kreistag und Stadtrat.

Die oberste Kommunalaufsicht beim Innenministerium hätte hier eingreifen können. Bei der Kreistagswahl hätte sie - neben dem Landrat - als Einzige noch binnen vier Wochen das Klagerecht vor dem Verwaltungsgericht gehabt. Und Wulfängers Rechnung war erkennbar falsch.

Hat man sich in Magdeburg nicht allzu sehr für Stendal interessiert? Oder wollte man an der Ministeriumsspitze bei den eigenen Parteifreunden nicht ganz genau hinsehen?

Bei Stadt- und Kreiswahlleiter liegt jedenfalls längst politischer Sprengstoff. Und wie brisant der ist, kann politischen Strategen spätestens Anfang Juli nicht mehr verborgen geblieben sein.

Am 1. Juli meldet sich nämlich ein Mann per Mail bei Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt. Er ist einer der zehn, denen am 25. Mai im Wahllokal eröffnet wurde, schon per Brief gewählt zu haben.

Am 3. Juli erklärt er im Rathaus eidesstattlich, dass seine Unterschrift unter der Vollmacht gefälscht sei. Just zu der Stunde, als wenige hundert Meter entfernt der Kreistag die Wahl durchwinkt. Mit diesem Wissen steht auch der Stadtwahlleiter am Montag vor dem Stadtrat. Er erwähnt den Fall sogar und kündigt Strafanzeige für den Fall an, dass eine Prüfung den Verdacht erhärtet.

Dies ist wenige Tage später der Fall. Wie die Volksstimme aus Rathauskreisen erfahren hat, ist zu diesem Zeitpunkt klar, dass mindestens zwei weitere Personen aus dem Umfeld von Holger Gebhardt wussten, dass bei dieser Vollmacht mehr als nur getrickst worden war.

Jetzt wäre auch die Kreistagswahl noch anfechtbar gewesen. Doch weder Kreis noch Land reagieren. In der Stadtverwaltung wird derweil die Wiederholung der Briefwahl so vorbereitet, als ob keine Fälschung deren Ergebnis gefährden kann.

Schmotz: Manipulation durch Einzelne

Bis in der Woche vor dem Wahltermin der große Knall erfolgt. Am ersten Novembermittwoch lässt die Staatsanwaltschaft Büro- und Privaträume von fünf Verdächtigen durchsuchen, darunter die Geschäftsstelle der CDU und deren Vorsitzenden Wolfgang Kühnel.

Mehr als zehn Verdächtige stehen laut Staatsanwaltschaft inzwischen im Fokus der Ermittlungen. Und diese erstrecken sich nicht nur auf Vollmachten, bei denen gegen die Vierer-Regelung verstoßen worden ist.

Bis zum Frühjahr wollen die Strafermittler ihre Auswertung beendet haben.

Während der CDU-Stadtvorstand - darunter auch Klaus Schmotz - in einer Erklärung Ende November nur vom "Fehlverhalten eines Einzelnen" spricht, ist der Oberbürgermeister inzwischen in den Plural gewechselt. In seiner Neujahrsansprache für den Offenen Kanal sagt er: "Mit Erschrecken und Abscheu mussten wir dann auch zur Kenntnis nehmen, dass von Einzelnen diese Unachtsamkeit (der Verwaltung, Anmerkung der Redaktion) mit dazu benutzt wurde, um durch Manipulation von Briefwahlunterlagen diese Wahl zu verfälschen."

Der Oberbürgermeister geht davon aus, dass "nur durch die Wiederholung der Stadtratswal eine Verfälschung der Wahlergebnisse ausgeschlossen werden" könne.

Das ist richtig und falsch zugleich: Jetzt bleibt in der Tat nur noch eine Neuwahl. Doch hätten die Verantwortlichen von Kreis, Stadt und CDU - und auch die Kommunalaufsicht im Innenministerium - rechtzeitig genauer hingesehen beziehungsweise ihr Wissen nicht verschwiegen, dann hätte womöglich die Wiederholung der Briefwahl mit Blick auf die 189 Vollmachten noch gerettet werden können.

Möglicherweise bringen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bei weniger als den erlaubten vier Vollmachten noch weitere Fälschungen zutage. Dies wäre aber auch eine unerträgliche neue Dimension eines Skandals, der schon jetzt als eines der unrühmlichsten Kapitel in die Wahlgeschichte der Bundesrepublik eingehen dürfte.

Welche Ausmaße und Folgen diese Manipulationen letztlich haben, wird sich nicht zuletzt dann zeigen, wenn es Antworten auf die vielen noch offenen Fragen gibt.

Teil 1 ist erschienen am 3. Januar. In der ersten Folge ging es darum, wie es zu der Verwaltungspanne im Stendaler Rathaus kommen konnte. Den Text finden Sie auch im Internet unter www.volksstimme.de.