1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Stendal
  6. >
  7. Den Leidensweg der Väter nachempfunden

Todesmarsch zur Gedenkstätte Isenschnibbe Den Leidensweg der Väter nachempfunden

36 Kilometer über Stock und Stein - am Ende wartete der Tod. Das Leid
der KZ-Häftlinge, die während des Todesmarsches vor 70 Jahren zur
Feldscheune Isenschnibbe und in ihr starben, ist schwer nachzuempfinden.
Um so wichtiger war es den Beteiligten des Gedenkmarsches am Sonntag
und Montag, dass die Erinnerung an die Opfer nicht verblasst.

Von Christian Bark 15.04.2015, 03:30

Gardelegen l Ihren Vater kennt die 79-jährige Französin Jaqueline Chichery-Cartron nur aus frühen Kindertagen, bis dieser 1944 von den Nazis verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert wurde. Marcel Chichery war für den französichen Widerstand gegen die deutsche Besatzung, die Résistance, tätig gewesen. Wenige Wochen vor Kriegsende wurde er auf einem der Todesmärsche vom Bahnhof Mieste zur Feldscheune Isenschnibbe ermordet.

"Beim Dorf Wiepke verliert sich seine Spur", erklärt Jaquelines Sohn Jean-Luc Cartron. Dort wird sein Großvater erschossen worden sein, vermutet er. Der in den USA lebende Biologe ist mit seiner Mutter an diesem Sonntagvormittag nach Mieste gekommen. Gemeinsam mit anderen Nachkommen der Opfer und Schülern sowie interessierten Bürgern aus Gardelegen wollen sie den 36 Kilometer langen Leidensweg der KZ-Häftlinge nachgehen.

Der dritte Gedenkmarsch nach der Wende

Organisiert wurde die Aktion vom Förderverein der Gedenkstätte Isenschnibbe. Dessen Mitglied Torsten Haarseim steht seit Jahren in Kontakt mit den Nachkommen der Opfer. Kürzlich hat er ein Buch über das Massaker in der Feldscheune herausgegeben (Volksstimme berichtete). "Die Todesmärsche sind noch nicht ausreichend untersucht, Gardelgen könnte hierfür ein Zentrum werden", sagt er. Nach 2005 und 2010 ist dies Haarseim zufolge der dritte Gedenkmarsch nach der Wende. Neu sei, dass sich so viele Jugendliche unter den Teilnehmern befinden.

Ausgangspunkt des Gedenkmarsches ist der Bahnhof Mieste. Hier beschreibt Fördervereinsmitglied Paul Schmidt die Situation. Wie vor 70 Jahren die Züge mit KZ-Häftlingen eintrafen und die ausgemergelten, halbtoten Menschen das gesamte Gras rund um das Bahnhofsgelände abfraßen, nur, um etwas Nahrung zu bekommen. Diejenigen Häftlinge, die nicht mehr laufen konnten, wurden mit Pferdefuhrwerken transportiert. Die Gruppe aus Nachkommen jener Häftlinge, aus Schülern des Gardelegener Gymnasiums, der Sekundarschule und der Pfadfindergruppe Mieste sowie interessierten Bürgern setzt sich in Bewegung und läuft in Richtung Solpke. Darunter sind auch Gymnasiasten aus Wolfsburg. "Dass so ein schreckliches Ereignis in nächster Nähe passiert ist, wusste ich nicht", sagt Hannes Klanthe aus Wolfsburg. Bislang kannte er nur das Schicksal der Zwangsarbeiter im VW-Werk.

Informiert über den Gedenkmarsch hatte Hannes ein Mitschüler, der in seiner Freizeit bei den Pfadfindern Mieste aktiv ist. "Der jüngste Teilnehmer des Marsches ist zehn Jahre alt", informiert die Leiterin der Pfadfindergruppe, Christel Schwerin. Die Gruppe beschäftigt sich seit einigen Monaten mit dem Ereignis. "Den Pfad zu finden, ist nicht nur räumlich zu verstehen", erklärt Schwerin. Pfadfinderarbeit beinhalte auch die Auseinandersetzung mit Themen, die die Gesellschaft bewegen. Gerade für Mieste müsse dies der Todesmarsch im April 1945 sein.

Das Wetter ist an diesem Sonntag frühlingshaft mild. "Der Himmel war vor 70 Jahren auch so blau", berichtet Jean-Luc Cartron aus den Notizen eines amerikanischen Soldaten. Doch über Nacht hatte es gefroren und viele der Häftlinge seien nur dürftig bekleidet gewesen. Cartron findet die Landschaft, die er während des Marsches beobachtet, reizvoll. "Wie können sich so schreckliche Dinge in einer so herrlichen Umgebung zutragen", zitiert er erneut den Soldaten. Unterwegs trifft die Gruppe immer wieder auf Gedenksteine, die mit einem roten Dreieck, dem Zeichen der Nazis für politische Gefangene, gekennzeichnet sind. "Hier ist nur das Datum des Massakers in der Scheune zu lesen", sagt Torsten Haarseim. Tatsächlich seien aber schon während des Marsches viele Häftlinge, die nicht mehr weiter konnten, erschossen worden.

Im Dorf Solpke kommt die Gruppe zum örtlichen Friedhof. Dort ruhen, wie es auf dem Gedenkstein steht, weitere ermordete Antifaschisten. "So lautet die offizielle Bezeichnung der Opfer seit DDR-Zeiten", erklärt Haarseim. Dabei seien längst nicht alle Häftlinge Widerstandskämpfer gewesen. Viele seien einfach so dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer gefallen, andere seien aber auch Verbrecher oder "unliebsame" Personen gewesen.

Jaqueline Chichery-Cartron verfolgt alles mit großem Interesse, auch, wenn ihr vieles übersetzt werden muss. Fotos schießt sie mit ihrem Smartpad, das sie immer dabei hat. Die alte Dame ist auch noch sehr gut zu Fuß, sie will den gesamten Marsch mitlaufen. "Mehrmals in der Woche treibe ich Sport", sagt sie.

Weiter geht es durch das Waldgebiet Hellberge in Richtung Breitenfeld. Hier legen die Marschteilnehmer ihre Mittagspause ein. Einigen Schülern ist nicht ganz klar, warum die Aufseher damals den Umweg durch den Wald gewählt haben. "Vermutlich, um weniger aufzufallen", erklärt Torsten Haarseim.

Nach der Pause geht es weiter über Stock und Stein. Jetzt muss sich Madame Chichery-Cartron doch eine Weile chauffieren lassen, sie fährt einige Kilometer in dem die Gruppe permanent begleitenden Kleinbus mit. Wie Fördervereinsmitglied Karl-Heinz Reuschel erklärt, sei jetzt über die Hälfte des 21 Kilometer langen Tagesmarsches geschafft. "Wir können nicht mal 0,1 Prozent des Leides nachvollziehen, das die Häftlinge bei dem Marsch durchgemacht haben müssen", sagt er. Wie er erinnern sich noch viele andere Marschteilnehmer daran, wie das Gedenken zu DDR-Zeiten einem staatlichen Festakt glich. "Für mich ist Isenschnibbe ein Ort des Gedenkens und nicht des politischen Gedächtnisses", sagt Reuschel.

Einigen Schülern schmerzen, wie sie sagen, bereits die Füße. "Und jetzt stellt euch mal vor, ihr wärt baarfuß oder nur in Holzpantoffeln unterwegs", verweist Teuschel auf das Los der Häftlinge. Trotz der Schmerzen laufen die Jugendlichen weiter tapfer mit. "Es ist was Besonderes, das am eigenen Leib zu spüren", sagt Lena Leuschner. Die 17-jährige Gymnasiastin hatte in Gardelegen schon bei einer Stolpersteinaktion mitgeholfen. Ihr ist es wichtig, wie sie sagt, mit Blick auf aktuelle fremdenfeindliche Tendenzen in Deutschland, das Vergangene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ihre Klassenkameradinnen unterhalten sich inzwischen etwas auf Französisch mit Jaqueline Chichery-Cartron, die mittlerweile zu Fuß weiterläuft.

Die Gruppe kommt nach gut sechseinhalb Stunden und 21 Kilometern Marsch im Ferienpark Zichtau an. Hier werden zumindest die Jugendlichen übernachten und ihre Füße schonen. Am Abend hören sie noch die Geschichte eines Häftlings, der sich während des Marsches totgestellt hatte und so das Massaker überlebte. In Zichtau haben sich die Niederländer Henry und Mathieu van Geen dem Zug angeschlossen. Ihr Großvater hatte 1945 unterwegs fliehen können und sei bei einem Pfarrer versteckt worden. Er soll die Amerikaner maßgeblich beeinflusst haben, die Stadt Gardelegen nicht zu zerstören.

Nach dem Mittag geht es am Montag weiter. In Zichtau erzählt die Bewohnerin des "Alten Hirtenhauses" von einem Häftling, der sich in dem Gebäude versteckt hatte, erwischt und erschossen wurde. Weiter im Dorf Wiepke hält Jean-Luc Cartron inne. Hier muss sein Großvater Marcel ermordet worden sein. Zwischen Wiepke und Estedt erreicht die Gruppe auf einer Anhöhe ein Soldatengrab. Hier waren Haarseim zufolge junge Deutsche in den letzten Kriegstagen sinnlos gefallen.

In Estedt liegen die nächsten KZ-Häftlinge begraben. Diese waren hier von Fallschirmjägern erschossen worden, erklärt Torsten Haarseim. "Auch Zivilisten waren an der Ermordung beteiligt", fügt er hinzu. Hinter Estedt, in Ackendorf erwartet die Gruppe eine kleine Stärkung. Hier erfährt Cartron zudem, dass der damalige Gastwirt wohl zwei französische Häftlinge versteckt hätte. "Bleibt herauszufinden, wer die Männer waren", sagt er.

Die verbleibenden Kilometer zur Gedenkstätte sind anstrengend. Aus Zeitgründen wird auf den Weg über die ehemalige Remonteschule verzichtet. Die letzten Meter sind für Jean-Luc Cartron sehr bewegend. In Sichtweite ist bereits der Ort des Massakers.

Bei der Gedenkveranstaltung an der Isenschnibbe endet der Marsch. Ob es ihn in der Form 2020 oder 2025 erneut geben wird, weiß Torsten Haarseim noch nicht. Wünschenswert wäre es aber, wie er sagt.

Weitere Bilder im Internet unter: www.volksstimme.de/nachrichten/lokal/stendal/bilder_aus_stendal/