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140. Geburtstag wird am kommenden Dienstag mit einem Sommerfest gefeiert "Jeder Mensch hat eine Begabung"

Von Donald Lyko 19.06.2015, 03:15

In der kommenden Woche feiert die Borghardt-Stiftung Stendal ihr 140-jähriges Bestehen. Das Sommerfest am 23.Juni soll zu einem Fest der Begegnung werden.

Stendal l Mitte der 1870er Jahre. Es ist die Zeit vieler Umbrüche in Deutschland, die Zeit der Industrialisierung. Bäuerliche Traditionen brechen weg, die Industriegesellschaft kommt mehr und mehr durch, Familienbande zerreißen. Es ist aber auch die Zeit, in der der Gedanke der modernen Diakonie immer mehr Gehör findet. "Die Liebe gehört mir wie der Glaube" - noch heute lebt die Diakonie nach diesem Leitsatz, den Pfarrer Johann Hinrich Wichern 1848 auf dem Kirchentag in Wittenberg gesagt hat als Aufruf, sich zur Inneren Mission zu bekennen. Wichern gilt daher als Gründer der modernen Diakonie.

Die Liebe zu den Menschen, zu den Entrechteten und Verwahrlosten, besonders zu den Kindern unter ihnen - sie war für den Stendaler Superintendent Dr. Emil Borghardt Motivation genug, die Bürgerinnen und Bürger seiner Heimatstadt um Unterstützung zu bitten. Unterstützung für sein Vorhaben, verwahrlosten Kindern ein neues Zuhause und eine Zukunft zu geben. Und so begann er, Geld zu sammeln. Seine Idee von einer Stiftung hat der Pfarrer nicht mehr erlebt. Doch einige Jahre nach seinem Tod wurde sie 1875 gegründet - und sie bekam seinen Namen.

"Die Stiftung hätte es nie gegeben, wenn die Stendaler Bürger damals nicht ins Portmonee gegriffen hätten", sagt Elimar Brandt, seit 2012 Vorstand der Borghardt-Stiftung. Schon damals, vor 140 Jahren, sei dies eine "bedeutende Form von Inklusion gewesen". Die Bereitschaft der Bürger von damals, für hilfsbedürftige Menschen oder Menschen mit Behinderungen ganz selbstverständlich Platz in ihrer Mitte zu schaffen, die Gesellschaft zu einer Gemeinschaft zu machen, die wünscht sich Elimar Brandt für heute wieder. Er wünscht sich ein neues Bewusstsein, "dass die Gesellschaft der Hansestadt Stendal versteht, dass wir eine große Gemeinschaft sind, an der man alle Menschen teilhaben lässt".

"Wir sind der Geschichte verpflichtet. Man muss sich ihrer bewusst sein, damit man eine neue Geschichte angehen kann", kommentiert er die vergangenen 140 Jahre. Er selbst sieht sich aber nicht als Verwalter der Stiftungsgeschichte, "ich möchte sie voranbringen, mitgestalten und neue Aspekte einbringen", sagt er. Sein Traum sei es, auf dem großen Gelände ein paar Gebäude errichten zu lassen, in denen Eltern mit behinderten Kindern leben können. Und wenn sie selbst pflegebedürftig sind, können die Eltern ebenfalls von Stiftungsmitarbeitern betreut werden. "Ein Zusammenleben wie in einem großen Dorf, das stelle ich mir vor", sagt Elimar Brandt. So ein Dorf, das sollte auch Platz für Räume bieten, in denen behindertengerechte Veranstaltungen stattfinden können. All das diene einem Ziel: dass Menschen mit und ohne Behinderungen noch besser zusammenleben.

Vieles müsse selbstverständlicher werden, fordert Elimar Brandt: "Wir müssen davon wegkommen, dass Behinderte Bettler sind. Sie haben genauso ein Recht zu leben, wie jeder andere auch." Wenn nur der etwas gelte, "der etwas leisten kann, dann wird die Gesellschaft arm. Reich wird sie aber, wenn die unterschiedlichen Facetten der Menschen zum Tragen kommt." Darin, im Fördern und Fordern, sieht der Stiftungsvorstand eine wichtige Aufgabe der Arbeit. Denn jeder Betreute werde individuell behandelt, wahrgenommen und begleitet. "Es gibt keinen Menschen, der nicht irgendeine Begabung hat. In jedem steckt etwas Schöpferisches, das herausgefunden werden muss. Denn jeder möchte gebraucht werden."

Jeder, der sich über die Arbeit der Borghardt-Stiftung und deren Einrichtung informieren möchte, ist zum Geburtstagsfest eingeladen. Am Montag, 22. Juni, findet ab 14 Uhr ein Gottesdienst mit anschließender Kaffeetafel statt. Für Dienstag, 23. Juni, ist ab 14 Uhr ein Festakt mit anschließendem Sommerfest auf dem Gelände geplant.