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War in zwei Welten gleichermaßen zu Hause

14.08.2012, 18:53

Stendal l Auch vier Wochen nach seinem Tod ist die Bestürzung unter den Hörbehinderten der Altmark und im ganzen Land noch riesengroß. Der Tod von Adolf Kuß, Landesvorsitzender der Gehörlosengemeinschaft Sachsen-Anhalt, der am 19. Juli dieses Jahres 72-jährig in Stendal starb, reißt eine enorme Lücke in die Vereinsarbeit. "Eine Lücke, die zu schließen wir im Moment nicht in der Lage sind", sagt Reiko Lühe. "Die Arbeit des Landesverbandes ist quasi zum Stillstand gekommen. Als Nachfolger ist zurzeit niemand in Sicht."

Der Vorsitzende des 64 Mitglieder zählenden Altmärkischen Gehörlosenvereins ist als Schwiegersohn von Adolf Kuß doppelt betroffen. "Die Messlatte", sagt er weiter, "hat Adolf sehr hoch gelegt."

So ist es nicht nur eine große, es sind zahllose Lücken, die nach seinem Tod klaffen. Er hatte einst die neun Vereine von der Altmark bis nach Wittenberg und Weißenfels zusammengeführt, hat den Landesverband am Laufen gehalten, die Beratungsstellen für Hörbehinderte wie die in der Stendaler Frommhagenstraße ins Leben gerufen und die Gebärdendolmetscherzentrale in Magdeburg aufgebaut. Um die Jugendverbände kümmerte er sich mit gleicher Intensität wie um die Seniorenarbeit.

"Und wer soll jetzt unsere Zeitung machen?", fragt Susann Appelt, Sozialarbeiterin und Gebärdendolmetscherin in der Stendaler Beratungsstelle, ratlos. Sie meint die "Landeszeitung der Gehörlosen Sachsen-Anhalt", vor 20 Jahren von Adolf Kuß gegründet. Er war ihr Redakteur, er hat geschrieben und redigiert, gestaltet und für den Druck gesorgt. Auch da war er Fachmann, da ganz besonders: Adolf Kuß hatte Schriftsetzer gelernt und von 1958 bis 1990 in der Stendaler Volksdruckerei gearbeitet. Am Ende hat er das viermal im Jahr erscheinende Blatt auch noch im ganzen Land verteilt. "Ihn kann man nicht ersetzen", sagt Susann Appelt resignierend.

Auch die Öffentlichkeitsarbeit der Hörbehinderten von Sachsen-Anhalt hängt nun in der Luft. Da war er immer wieder präsent, saß viermal im Jahr mit am Runden Tisch der Behinderten in Magdeburg, scheute keine Diskussion, und war sie noch so heiß. Dem Kampf um Barrierefreiheit für die Gehörlosen hatte er sich besonders verschrieben. Das bedeutet in erster Linie: Untertitelung von Fernsehsendungen. Der Traum des leidenschaftlichen Filmfreundes, der über Jahre sogar einen Nebenjob am Stendaler Kino hatte, war ein Kino mit Untertiteln, so dass Hörbehinderte "barrierefrei" sich jeden Film anschauen können. Erfüllt hat er sich noch nicht.

Am 4. und 5. Oktober treffen die Landesvorstände der Gehörlosenverbände von Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen beim MDR in Leipzig zusammen. Da wollte er dabei sein, um seinem Traum ein Stück näher zu kommen. Nachdem Sendungen wie "Brisant" und "Sport im Osten" bereits mit Untertiteln versehen wurden, wollte er Gleiches auch für die Regionalmagazine des Senders erstreiten.

Adolf Kuß hinterlässt seine Frau, Tochter und Schwiegersohn und zwei Enkelsöhne. Der Autor dieser Zeilen wird ihn als stets fröhlichen, überaus liebenswürdigen Kollegen nie aus der Erinnerung verlieren.

Seinen vielleicht wichtigsten Wesenszug beschreibt Susann Appelt: "Adolf war in beiden Welten gleichermaßen zu Hause: in der der Gehörlosen und der der Hörenden."

kuss



Ministerpräsident Wolfgang Böhmer überreichte dem Stendaler Adolf Kuß gestern das Verdienstkreuz am Bande.
kuss Ministerpräsident Wolfgang Böhmer überreichte dem Stendaler Adolf Kuß gestern das Verdienstkreuz am Bande.
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