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Interessante Fakten und Anekdoten aus der Geschichte des Männerturnvereins / Vereinschef Lotar Borchert erinnert sich Seit 120 Jahren wird in Silstedt geturnt

08.07.2014, 01:27

Der MTV Silstedt feiert seinen 120. Geburtstag. Seit jeher bereichert der Verein das Leben der Dorfbewohner. Im Volksstimme-Gespräch blickt Vereinschef Lotar Borchert auf die wechselvolle Geschichte des Männerturnvereins zurück.

Silstedt l Seit er acht Jahre alt ist, turnt Lotar Borchert. "Turnen war früher der Mittelpunkt des Sportlebens im Dorf", erinnert sich der 76-jährige Silstedter. Deshalb sei er von seinen Eltern angehalten worden, der Gruppe beizutreten. Seither begeistert ihn die Sportart. "Ich bin dabei geblieben - bis heute."

Turnen hat in dem Wernigeröder Ortsteil eine lange Tradition. Vor wenigen Tagen feierte der Männerturnverein (MTV) Silstedt 1894 seinen 120. Geburtstag. Lotar Borchert leitet den Verein seit 1994. Mit einigen Mitstreitern hat er in wochenlanger Kleinarbeit Fotos, interessante Fakten und Erinnerungen für eine Ausstellung zusammengestellt, um die Geschichte des MTV zu dokumentieren.

Im Jahr 1894 fanden sich einige Bewohner zusammen und gründeten den Turnverein. Die Männer seien damals vom Gedankengut des Turnvaters Friedrich-Ludwig Jahn beseelt gewesen, sagt Borchert. Jahn begann 1810, mit Knabenscharen ins Freie zu ziehen und Leibesübungen zu treiben. Turnen bedeutete neben sportlicher Betätigung Strammstehen und Marschieren. Denn Jahn verstand die Übungsstunden der jungen Männer auch als Vorbereitung auf den Krieg. "Das hatten die Silstedter aber nicht im Sinn. Sie wollten frei sein."

Das Turnen entwickelte sich im Dorf zur Spitzensportart, gehörte alsbald zu den Lebensgewohnheiten der Silstedter. Einer der Mitbegründer des Vereins und langjähriger Leiter war der Lehrer Julius Wolter. Nach seinem Tod im Jahr 1929 übernahm der Tischler Karl Mänz den Vorsitz. "Ja, der alte Mänz", sagt Borchert nachdenklich. "Turnen war sein Leben. Streng war er." Viele ältere Silstedter würden sich noch immer an ihn erinnern. "Als er 1962 verstarb, wurde Ehrenwache abgehalten."

Der damalige Vorstand vertrat den Standpunkt, dass Sport, Kultur und Lebensfreude untrennbar miteinander verbunden sind, heißt es in der Vereinschronik. Und so war es auch. Bei allen besonderen Ereignissen und Veranstaltungen in Silstedt wurde seither ein sportlich-kulturelles Programm geboten mit Turnen, Gymnastik, Volkstänzen und Theater. So ist es nicht verwunderlich, dass aus dem Verein die Silstedter Theatergruppe hervorging, die es noch heute gibt.

Frauenturnen war verpönt

Frauenturnen sei lange verpönt gewesen, berichtet Lotar Borchert. Ab 1921 durften schließlich auch die Silstedterinnen turnen. In der Chronik heißt es: "Die Turnerinnen trugen leichte Sportkleidung, die fast den ganzen Körper bedeckte. Trotzdem gab es aus einigen Kreisen der Silstedter Bevölkerung Proteste gegen diese Kleidung aus ethischen Gründen."

Es sollte für die Silstedter nicht nur beim Turnen bleiben. Sportarten wie Schlagball, Faustball und Leichtathletik wurden mit einbezogen. Zudem wurde 1932 ein Freibad am Ortsrand eingeweiht. Dafür pachtete der Rat der Gemeinde einen brachliegenden Teich und stellte ihn dem Turnverein zum Ausbau einer Badeanstalt zur Verfügung. Viele Mitglieder und Einwohner packten mit an. "Die nicht leichte Räumung des Teiches von Unrat und Schlammmassen wurde nach der Verlegung von Feldbahnschienen bis zur benachbarten Wiese mit Kipploren bewältigt", wird in der Chronik berichtet. Zwei Drittel der Teichfläche seien als Schwimmbecken für Erwachsene und Schwimmer und ein Drittel der Fläche für Kinder und Nichtschwimmer hergerichtet worden. Zur Beflutung wurde das Wasser des benachbarten Kohlgartengrabens genutzt. Zudem sei ein barackenähnlicher Bau für Umkleideräume, Toiletten und einen Wirtschaftsraum errichtet worden. Später wurde noch ein Sprungturm gebaut. "Viele Leute haben dort das Schwimmen erlernt", erinnert sich Lotar Borchert. Wegen zunehmender Verschmutzung des Kohlgartengrabens durfte die Badeanstalt nach 1945 nicht mehr benutzt werden.

Der Zweite Weltkrieg brachte das Vereinsleben in Silstedt zum Erliegen. "Der Krieg hat viel Elend und Kummer über die Familien gebracht", so Borchert. Erst 1946 stand den Silstedtern wieder der Sinn nach Sport. Der langjährige Turnwart Karl Mänz rief Freunde und Jugendliche zusammen, um sie fürs Turnen zu interessieren. "Das Vereinsleben kam wieder in Gang", so Borchert. Turnen habe nach wie vor im Mittelpunkt gestanden, aber auch andere Sportarten wie Handball wurden betrieben.

Fußball dagegen musste sich erst durchsetzen. "Ich habe leidenschaftlich gern Fußball gespielt", erinnert sich Lotar Borchert an seine Jugend. "Zuerst immer heimlich, weil die Eltern es nicht wissen sollten." Laut Vereinschronik begannen die Fußballspieler unter erschwerten Bedingungen. Zuerst spielten die Silstedter barfuß. "Die Spielkleidung bestand aus elf gestrickten Pullovern, die von den Frauen angefertigt, und Hosen, die aus besorgtem Tuch ebenfalls selbst genäht wurden." Schumacher Hermann Lüttge gestaltete Arbeitsschuhe zu Fußballschuhen um. Der Sportplatz befand sich links der Holtemmebrücke in Richtung Minsleben. "Wir hatten dort keine Umkleidekabinen", weiß Lotar Borchert zu berichten. So zogen sich die Sportler in der Gaststätte im Ort um und liefen dann durchs halbe Dorf zum Fußballplatz. "Der Ball ist uns immer in die Holtemme geflogen. Das weiß ich noch."

Auf dem Gelände einer alten Hühnerfarm wurde später in freiwilligen Arbeitseinsätzen ein großer Sportplatz errichtet. Die Stallgebäude wurden umgebaut. Eine Kleinküche, ein Kulturraum, eine Dusch- und Waschanlage sowie Toiletten entstanden. "Am 17. September 1977 war es dann soweit", heißt es in der Chronik. "Mit einem Massensportfest und einem Fußballpunktspiel gegen Reddeber erfolgte die feierliche Einweihung." Die Sektion Fußball war bereits am 8. Dezember 1976 neu gegründet worden. Dazu fanden sich 58 Fußballer zusammen, eine Herrenmannschaft und eine Schülermannschaft wurden gebildet.

Berühmte Werbegruppe

Die Geschichte des MTV Silstedt birgt weitere Höhepunkte, Erfolge und Anekdoten. Viele Personen haben sich im Verein engagiert. Das haben Lotar Borchert und seine Mitstreiter bei ihren Recherchen erfahren. Wie etwa die Tischtennisfreunde, die sich 1968 zusammenfanden, um ihrer Leidenschaft nachzugehen. Oder der Schützensaal, der im unermüdlichen Einsatz in eine Turnhalle umgestaltet wurde. Die Kegler, die sich seit 1992 unter der Leitung von Lisa Schinkröthe im "Blocksberg" treffen. Ein wichtiges Kapitel in der Vereinsgeschichte nimmt zudem die Sportwerbegruppe ein, die 1962 von Sportfreund Ihms gegründet wurde. Die Turner wurden über die Kreisgrenzen bekannt, traten sogar im Fernsehen auf, unter anderem bei "Da liegt Musike drin".

Heute zählt der Verein 234 Mitglieder, darunter 75 Mädchen und Jungen. Neben den drei Frauengymnastikgruppen hat vor allem die Kinderturngruppe Zuwachs bekommen. Darüber hinaus gibt es die Kegler, die Fußballer und die Tischtennisspieler. Mit dem Sportplatz und der neuen Turnhalle haben die Silstedter beste Voraussetzung. Sogar aus den anderen Wernigeröder Ortsteilen würden die Leute nach Silstedt kommen, um Sport zu treiben.

Der Verein trage mit dazu bei, das Leben im Dorf zusammenzuhalten, ist sich Lotar Borchert sicher. "Heutzutage driftet so viel auseinander." Bis vor Kurzem habe er selbst noch geturnt, verrät der 76-Jährige. "Wenn man so viele Jahre Sport getrieben hat, fällt einem vieles im Alter noch leicht." Sportplatz und Turnhalle sind nach wie vor sein zweites Zuhause.