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Landesbischöfin Junkermann: Muße ist heute verdächtig geworden

20.01.2013, 18:59

Nordgermersleben l Die Suche nach Gleichgewicht, meist für andere, macht krank. Besonders Frauen! Das findet Landesbischöfin Ilse Junkermann. Am Sonnabend sprach die geistliche Leiterin der evangelischen Kirchenprovinz Mitteldeutschland (EKM) in Nordgermersleben. Die Landfrauengruppe der Hohen Börde hatte Ilse Junkermann zur Premiere ihres "Frauenfrühstücks" an die gedeckte Frühstücktafel eingeladen.

Die Bischöfin hat ein Problem mit dem Begriff "Balance"

Frische Brötchen, gefüllte Eier, Konfitüren und Honig aus der Hohen Börde, dazu ein frisch gebrühter Kaffee machten Appetit. Christliche Lieder begleitete Sven Sander am Klavier. Landfrauen und Christinnen - auch aus benachbarten Dörfern der Hohen Börde - waren ins Peter-Wilhelm-Behrends-Haus gekommen, um der Landesbischöfin zu lauschen.

Und sie wurden nicht enttäuscht: Offen, anschaulich und kritisch sprach Ilse Junkermann über Verzweiflung, Überforderung, über Aufopferung und Scheitern im Alltag.

"Leben in der Balance" hatte die Bischöfin ihren kurzweiligen Vortrag überschrieben. Und sie meinte mit Balance - wider Erwarten - nichts Gutes.

Balance stehe zwar für Ausgewogenheit und Gleichgewicht. "Doch ich habe ein Problem mit dem Begriff."

"Will ich ein Leben des Austarierens, damit nur nichts aus dem Gleichgewicht gerät? Ein Leben, in dem ich deshalb selbst zurückstecke? Gerade Frauen fragen sich oft, wie sie anderen gerecht werden können. Doch was ist mit ihnen selbst?"

Landesbischöfin Ilse Junkermann während des Frauenfrühstücks der Landfrauen in Nordgermersleben

Ilse Junkermann erinnerte an ihre Kindheit, in der sie als Elfjährige über den Schwebebalken balancieren musste. "Schritt für Schritt wollte überlegt sein, um nicht abzustürzen. Der Blick auf dem Balken ging immer voraus, bloß nicht auf die eigenen Füße."

Betroffenes Nicken in der Nordgermersleber Frauenrunde

Ein Ziel vor Augen haben, oder "Zielorientierung", wie es die Experten positiv besetzen, zwinge Menschen dazu, ständig fixiert zu sein. "Dabei kann ich nicht frei, nicht unbeschwert sein, nicht meinen Blick schweifen lassen. Wer die Aufmerksamkeit verliert, stürzt ab vom Schwebebalken."

Doch so fragte die Bischöfin: "Will ich ein Leben des Austarierens, damit nur nichts aus dem Gleichgewicht gerät? Ein Leben, in dem ich deshalb selbst zurückstecke? Gerade Frauen mühen sich oft, anderen gerecht werden können. Doch was ist mit ihnen selbst?"

Nicken in der Frauenrunde.

Was ist die Alternative? Die Bischöfin versuchte eine Antwort zu geben: "Bei dem, was ich tue, ganz da sein. Frauen wird ja die Fähigkeit zum Multi-Tasking nachgesagt: im Haushalt gleichzeitig chatten, telefonieren, an die Arbeit denken, sich sorgen. Immer von allem ein bisschen machen. Nirgends richtig dabei sein, aber immer überall dabei sein. Irgendwie."

Dieser Drang zum Ausgleichenwollen, zum Austarieren, das Bestreben, immer alles ganz und perfekt hinzubekommen, all das erhöhe den Druck und mache viele Menschen krank. "Depressionen, \'Burn out\' zählen auch deshalb heute zu den häufigsten Krankenheiten.

Etwas aus der Hand geben können, fällt vielen Frauen schwer. Kinder in die Krippe geben, fällt Frauen aus dem Westen schwerer als Frauen, die im Osten kulturell ganz anders geprägt worden sind. Verantwortung abgeben können, um sich einer anderen Aufgabe voll widmen zu können, das fällt schwer, ist aber nötig. Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Ich kann mich an meine Gewissensbisse erinnern, als ich mein Kind morgens verließ, wenn ich zur Arbeit ging."

Sich selbst erlauben, zu sagen: "Du bis keine Last, wenn Du nicht kannst" kann der Bischöfin zufolge entlasten. Sie plädierte für mehr Muße im Leben. "Muße ist ja heutzutage verdächtig geworden. Aber ich sage: Wir können aus der Muße wachsen. Wir können mit dem Aufhören anfangen und die Woche mit einem Mußetag, dem Sonntag beginnen." Sinnbild dafür sei der Ostersonntag. Dem Aufhören, dem Tod von Jesus Christus, folgte dessen Überwindung durch Jesus\' Auferstehung als Sohn Gottes am Ostersonntag. Ein Mußetag als Neuanfang.

Frauenfrühstück soll auf jeden Fall wiederholt werden

Mit christlichen Liedern und Gebeten feierte die Frauenrunde einen besinnlichen Wintermorgen bei Kerzenschein und herzhaftem Essen, dem viele gute Gespräche folgten.

Die Vorsitzende der Landfrauengruppe Steffi Trittel versprach eine Neuauflage des Frauenfrühstücks. "Es gibt viele Themen, die Frauen heute bewegen, interessieren und zum Austausch anregen. Der Auftakt war sicherlich für alle Anwesenden sehr inspirierend und hat Anlass zur Besinnung und zum Nachdenken über das eigene Leben und den Alltag gegeben. Auch für mich."