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Herbert Müller schildert seine Erlebnisse aus den letzten Tagen des Krieges Colbitzer Jugendliche sollten die Rote Armee aufhalten

Von Burkhard Steffen 07.05.2015, 03:23

Am morgigen Freitag jährt sich zum 70. Mal das Ende des 2. Weltkrieges. An der Gedenkstätte in Dolle wird dieses Ereignis mit einer Veranstaltung ab 13 Uhr gewürdigt. Innenminister Holger Stahlknecht wird die Rede halten. Als Zeitzeuge erinnert sich Herbert Müller aus Colbitz an die letzten Tage dieses furchtbaren Krieges.

Colbitz l Herbert Müller (86) ist als Hobbyhistoriker weit über die Colbitzer Grenzen hinaus bekannt. Zahlreiche Ereignisse aus der Geschichte seines Heimatdorfes hat er schon aus dem Dunkel des Vergessens hervorgeholt. Nachfolgend schildert er sein eigenes Schicksal in den letzten Kriegstagen.

"Am 9. April 1945, ich bin knapp 16 Jahre alt, werde ich zusammen mit einigen anderen Colbitzer jungen Burschen in Stendal einer paramilitärischen Einheit zugeordnet. An dem besagten Abend wird die Parole ,feindliche Panzerspitzen stehen bei Gardelegen` ausgegeben. Unsere Einheit soll östlich der Elbe zurückverlegt werden.

Wir werden "feldmarschmäßig" (wir erhalten eine Decke) ausgerüstet, soweit das noch möglich ist. Im Objekt herrscht ein heilloses Durcheinander. Die Ausbilder und Befehlshaber haben Schwierigkeiten, Ordnung zu halten und die Kontrolle auszuüben. Diesen Umstand und die hereinbrechende Dunkelheit nutzen wir Colbitzer und rücken aus. Wir wollen nach Hause.

Wir meiden die Straßen, so weit es geht. An der Bahnlinie Stendal - Magdeburg entlang laufen wir nach Süden. In der Nähe von Demker treffen wir auf einen haltenden Zug. Vorsichtig nähern wir uns und stellen fest, dass Angehörige der Feldgendarmerie am Zug patrouillieren.

Diese Feldgendarmen werden als Kettenhunde bezeichnet, weil sie brutal zu Werke gingen und als Symbol ein Messingschild an einer Kette um den Nacken vor der Brust hängen hatten. Was wir zurzeit nur ahnen können: Dieser Zug ist voll mit KZ-Häftlingen. Später haben wir erfahren, dass er bei Farsleben steckengeblieben ist und die meist jüdischen Insassen aus dem KZ Bergen-Belsen von den vorrückenden Amerikanern befreit wurden.

Streckenweise quer durch den Wald kommen wir schließlich am anderen Vormittag in unserem Dorf an. Wie es das Schicksal manchmal so will, unsere Einheit war dem in Colbitz stationierten regulären Truppenteil zugeordnet und gerade in Colbitz angekommen. Es gelingt uns noch, unser Zuhause zu erreichen. Wir werden aber schon gesucht. Ziemlich deprimiert und voll Angst gehen wir schließlich doch noch zu dem Standort und melden uns.

Kriegsgefangener Franzose holt einen Arzt

Der kommandierende Oberst ist doch noch gnädig mit uns. Wir müssen uns in eine Ecke stellen und sollen uns schämen. Im Anschluss werden wir vereidigt und erhalten je einen Karabiner und Munition.

Gegen Abend dürfen Karl Lindau und ich mit Zustimmung eines Unteroffiziers, der am Nachmittag unsere Arbeit beim Vergraben von Munition überwacht hatte, noch mal nach Hause. Ich bin krank, werde sofort ins Bett gelegt. Der bei uns tätige kriegsgefangene Franzose Marcel le Blanc holt einen französischen Arzt. Woher? Das wissen die Götter. Dieser Arzt stellt umgehend ein Attest aus. Damit geht meine Mutter zu dem Kommandeur, der das doch recht verständnisvoll zur Kenntnis nimmt.

Meine Mutter, eine resolute Frau, erklärt dem Oberst, dass diese Jungen den Krieg auch nicht mehr gewinnen können. Damit bewirkt sie, dass auch Karl Lindau wieder nach Hause gehen darf.

Die Einheit zieht noch an diesem Abend aus Colbitz ab und in Rogätz über die Elbe. Die Jungs sollen die Russen aufhalten. Bis auf einen, Theo Lamers, einen Umquartierten, kommen die Colbitzer Jungen Walter Sommer, Ronald Julius und Christoph Karcher die nächste Nacht von Rogätz noch einmal nach Hause. Sie rücken also noch ein zweites Mal aus. Feldwebel Wilhelm Schuppenhauer, als Parlamentär mit einer weißen Fahne ausgerüstet, macht sich aus Colbitz auf den Weg in Richtung Wolmirstedt, den Amerikanern entgegen. Fanatische, vom Endsieg besessene Subjekte wollen das verhindern. Schuppenhauer wird hinterrücks von deutscher Waffen-SS erschossen. Am Tag des Eintreffens der amerikanischen Truppen, dem 13. April, wird Feldwebel Schuppenhauer vom Kirchendiener und Totengräber Willi Görsch auf dem Colbitzer Friedhof still begraben."