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Heute jährt sich die Kapitulation Deutschlands zum 70. Mal: Zwei Zerbster Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse 70 Jahre Kriegsende: Erinnerungen, die bleiben

08.05.2015, 01:24

Der 8. Mai 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Margrit Weimeister und Erwin Erbe, zwei Zeitzeugen aus Zerbst, berichten über die letzten Tage und das Kriegsende vor 70 Jahren.

Am 16. April um 10.45 Uhr wurde die Stadt Zerbst als letzte Stadt im Krieg durch Flieger-Bomben zerstört. Wie sehr dieser Tag das Leben unserer Familie beeinflussen würde, konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht verstellen. Das furchtbare Ereignis war nicht das letzte, das unsere Familie treffen würde. Mein Elternhaus war ein landwirtschaftlicher Hof hinter der Stadtmauer gelegen. Diese Diktatur war so menschenverachtend, dass sie den Untergang des gesamten Volkes in Kauf nahm. Nur Fanatiker glaubten noch an die "Wunderwaffe", die den Endsieg doch noch bringen sollte. Raketen waren schon auf England abgeworfen worden und die Atombombe war kurz vor der Fertigstellung. Wie verheerend diese Waffe war, wurde den Menschen erst nach Hiroshima klar. Es war das größte Glück dieses Krieges, dass diese Waffe nicht zur Anwendung kam und in die Hände des wahnsinnigen Hitlers gelangte. Von Westen und Osten waren die Alliierten bis an die Elbe vorgestoßen und es hatte noch viele Menschen gekostet, bis sie sich trafen und den Krieg beendeten. Deutschland war besiegt und zerstört. Die letzten Tage des Krieges waren voller Angst, weil man Tag und Nacht die nahende Front hörte, ständig donnerte der Artilleriebeschuss. Einzelne Treffer waren schon eingeschlagen.

Auf unserem Hof waren 40 Soldaten mit Pferden einquartiert und meine Mutter hatte mit den Frauen in Kesseln Essen für die Soldaten gekocht. Wir schliefen nur noch im Keller. Einige junge Soldaten hatten uns gebeten, oben in unseren Zimmern in unseren Betten schlafen zu dürfen, ein letztes Mal, abends erfuhren wir dann, dass viele gefallen waren. Wir hatten ihre Namen gekannt. Es waren die jungen Soldaten von 17 bis 20 Jahren, die in Walternienburg und Umgebung gefallen sind und dort beerdigt wurden. Uns blieb wenig Zeit zum Nachdenken. Schließlich wurde die Bevölkerung aufgerufen, die Stadt zu verlassen. Aber wir konnten nicht so leicht weg, meine Mutter wollte das Vieh nicht unversorgt lassen.

So waren wir am 16. April noch zuhause, als die Sirenen losheulten. Alles ging rasend schnell. Als die Bomben einschlugen, lagen wir im Keller auf der Erde mit den Köpfen über meine kleine Schwester gebeugt.

"Nachts wurden die Frauen heimgesucht"

Die Erschütterungen waren furchtbar, es war, als ob sich der Boden einen halben Meter hoch hob, mit einem Schlag flogen alle Fensterscheiben heraus und Ziegel von den Dächern. Unser Haus und der Hof waren in der Straße das Letzte, das so total zerstört wurde. Meine Mutter ließ uns zurück und lief allein zurück, um zu löschen und etwas zu retten, aber alle Ställe brannten schon, die Tiere waren erstickt und verbrannten. Mutter konnte auch im Keller nur wenig löschen. Meine Schulfreundin war mit ihren Eltern und fünf Geschwistern umgekommen, wie auch über 500 Menschen, die in der Stadt geblieben waren und sich in ihren oder den Brauereikellern sicher gefühlt hatten.

Zunächst machten wir uns auf den Weg nach Zernitz zu den Großeltern. Plötzlich kam ein Jeep, es war der Fahrer des Kommandeurs, der uns gesucht hatte und froh war, als er uns lebend antraf. Er brachte uns nach Zernitz zum Hof meines Onkels und der Großeltern. Dort hatte man schon auf uns gewartet, um uns sich gesorgt, ob wir noch leben. Der Hof war voller Menschen. 34 Menschen lagen in Zimmern, Kellern und wo man sonst noch liegen konnte. Noch wusste man nicht, wie es weiter ging.

Als am 30. April die Kapitulation erklärt wurde und Hitler Selbstmord begangen hatte, begann ein neues Kapitel. Nachdem zunächst ein Amerikaner den Geschirrschrank meiner Tante leer geräumt hat, um nach Waffen zu suchen, hörten wir, dass sich die Amerikaner zurückgezogen hätten. Das war so bedrückend, dass sich unsere Mütter entschlossen mit Pferd und Wagen in Richtung Westen zu ziehen. Ein Gummiwagen wurde mit Hab und Gut und Verpflegung beladen und es ging los. Jemand fragte: Wo wollt ihr denn hin? Wir kehrten tatsächlich um. Zuhause in Zernitz waren die Leute schon dabei, sich zu bedienen. Alle hatten panische Angst vor den Russen. Denen waren schreckliche Nachrichten von Untaten vorausgeeilt. In Zerbst hat sich ein Bäckermeister mit Frau und 18-jähriger Tochter mit Gift umgebracht, Frau und Töchter des Gynäkologen ebenfalls.

Nachdem nachts Frauen heimgesucht wurden, versammelten wir uns bei Nachbarn. Als es in der Nacht klopfte und endlich geöffnet werden musste, kamen sie herein und musterten die Frauen. Wir waren in der Falle! Unser Zimmer hatte keine zweite Tür! Nachdem sie zwei Frauen gegriffen hatten, reagierte meine Tante, sie griff meine kleine Cousine, öffnete das Fenster und flüsterte: Spring!, sie schob mich hinterher und dann sprangen die Mütter raus. Zum Glück war auf der Straße keiner zu sehen. Wir liefen in die Wiesen und versteckten uns unter den Büschen. Am nächsten Abend versammelte sich das ganze Dorf in einer Scheune. Alles war muksmäuschen still. Sie kamen wieder, brachen das Tor auf und fragten die Männer: "Wo Frau?". Sie drohten mit den Waffen, als die Männer nichts sagten, kletterten sie auf die Banse und leuchteten mit ihren Feuerzeugen die Banse ab. Uns stockte der Atem, wenn das Stroh Feuer gefangen hätte, hätten wir verbrennen können. Wir wussten, dass die Kommandeure die Vergewaltigungen verboten hatten. Das ganze Dorf fing so laut es ging an zu schreien: "Kommandant, Kommandant!". Es hat tatsächlich gewirkt und sie zogen ab.

Wir hatten auch sonst viel Glück, denn mein Vater und mein Onkel hatten die Soldatenzeit überlebt. Wir hatten also keine Menschenleben in diesem Krieg zu beklagen. Mein Vater kehrte im Sommer heim und wir begannen mit dem Aufbau unseres Hofes. Bis mein Vater zurückkam, wohnten wir, Mutter, mein Bruder und meine kleine Schwester bei unserer Tante im Haus in einem Zimmer der Wohnung bei anderen Mietern. Im Nachbarzimmer war eine Familie aus Köln untergebracht, Mutter, zwei Töchter und der Ehemann der Tochter. Alle noch bewohnbaren Häuser waren überbelegt. Als mein Vater aus dem Krieg nach Hause kam, zogen wir in unseren Keller. Er legte einige Frühbeetfenster über den Keller um das Loch abzudecken, man konnte den Himmel sehen, über uns das Haus war weg. Mit zwei alten Maurern bauten wir Haus und Ställe wieder auf. Ich war zwölf Jahre alt und musste den Maurern helfen. Dann ging ich täglich mit aufs Feld. Mutter suchte ihre Cousins auf den Dörfern auf und bettelte um Kalb oder anderes Vieh. Unser Onkel gab uns zwei Kühe, so hatten wir Milch. Wir konnten den Rinderbestand nur langsam wieder aufbauen, immer wieder musste das Abgabesoll erfüllt werden.

"Meine kleine Schwester war Zeuge."

Vater beschaffte Hühner und wir hatten Gemüse, so lebten wir vorrangig von Milch und Eiern, die natürlich auch dem Abgabesoll unterlagen. Der nächste Schlag ereilte uns schon 1947, als die Nachbarscheune mit unserer gesamten Ernte verbrannte. Der Besitzer und ein anderer Bauer waren ebenfalls davon betroffen.

Wir lebten nun von Brotkarten, aber es war kein Futter da für das Vieh. Und es gab nichts zu kaufen. Die Bauern waren Selbstversorger, wenn sie ihr Soll nicht erfüllen konnten, durften sie nicht schlachten. Viele Bauern mussten in den folgenden Jahren ihr Höfe verlassen, um nicht verhaftet zu werden, weil sie ihr Soll nicht erfüllen konnten. Eines Tages war es bei uns auch soweit. Meine kleine Schwester war Zeuge, als mein Vater abgeholt wurde. Er kam nochmal frei, aber er sah keine Möglichkeit für ein weiteres Wirtschaften. Er sagte: "Wir müssen gehen." Acht Jahre hatten wir unter schwerster Arbeit Haus und Ställe aufgebaut, um dann alles stehen und liegen zu lassen. Ohne Geld gingen wir in den Westen und waren Flüchtlinge in Deutschland. Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur! Margrit Weimeister, Deetz