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Schüler der neunten Klassen des Zerbster Francisceums sind von Erkenntnissen beeindruckt "Es könnte jederzeit wieder passieren"

Von Sebastian Siebert 18.06.2015, 03:06

Eine andere Art, Englisch zu lernen, versuchten die Schüler der neunten Klassen des Francisceums während der vergangenen Monate. Die Gymnasiasten erkundeten dabei die Stadtgeschichte. Gestern werteten sie ihre Erfahrungen aus.

Zerbst l "Ich selbst fand es super. Die Schüler waren sehr diszipliniert und unglaublich kreativ", sagte Englischlehrerin Regine Knauer. Manchmal habe sie sogar richtig Gänsehaut bekommen, so ergreifend seien die Beiträge gewesen.

"Mal sehen, was die Schüler sagen", sagte sie gestern. Auf dem Hof des Zerbster Gymnasiums hatten sie und die Schüler der 9/2 die Stühle zu einem Kreis aufgestellt. Die Lehrerin verteilte Zettel, auf denen die Schüler ihr ehrliches Urteil über die Form der Unterrichtsgestaltung der vergangenen Wochen abgeben konnten und gleichzeitig Verbesserungsvorschläge anzumerken.

Während die Schüler ihre Gedanken notierten, fasste die Pädagogin das Projekt noch einmal zusammen. "Wir haben den 70. Gedenktag der Zerstörung der Stadt zum Anlass genommen, den Unterricht umzugestalten", erklärte sie. Die Schüler haben sich zunächst einmal im Museum, das im gleichen Gebäude untergebracht ist, umgesehen und verschiedene Fakten recherchiert. Unter anderem sahen sie sich die über hundert Sterbeurkunden an, welche die Namen der Toten des Bombenangriffs vom 16. April 1945 in Zerbst tragen.

Anschließend teilten sich die Schüler in Gruppen auf. "Es gab verschiedene fiktive Gespräche", berichtete die Lehrerin. Zwei Schüler stellten ein Gespräch zwischen Enkel und Großmutter dar, die sich an diesen Tag in Zerbst erinnert. Marko Gaube spielte dann den ehemaligen Direktor Dr. Franz Münnich. Dieser erklärte einem fiktiven Freund, gespielt von Lisa Ziemer, wie er es schaffte, den Nazis möglichst wenig Raum in seiner Schule zu ermöglichen. "Nicht alles konnte er verhindern. Er musste auch die Appelle der Hitlerjugend zulassen oder in der zehnten Klasse Rassenkunde unterrichten", berichtete die Lehrerin. Allerdings habe er sich auch dafür verantworten müssen, dass er den Regeln nicht so streng gefolgt sei, wie die Nazis es gern gehabt hätten, fügte sie an.

Aus der Sterbeurkunden-Installation hatte sich eine Gruppe aus sechs Schülern sechs Namen herausgesucht. "Zu diesen erdachten sie sich eine Geschichte und beschrieben, wie die reale Person den Tag ihres Todes erlebt haben könnte", beschrieb sie weiter. "Die Schüler lasen dafür aus schwarzen Heftern vor, die mit einer weißen Rose geschmückt waren", berichtete Regine Knauer weiter. "Das war sehr ergreifend."

Eine andere Grupppe berichtete über das Leben in den Tagen nach der Bombardierung. "Sie beschrieben, wie sehr die Stadt in Trümmern lag, wie man versuchte, an Nahrung zu kommen und wie die Trümmerfrauen ihre Arbeit aufnahmen." Auch das sei natürlich fiktiv gewesen, allerdings auch auf den historischen Fakten beruhend, welche die Jungen und Mädchen im Museum erlernt hatten.

Anschließend stand eine Stadtführung auf dem Plan. Vanessa Behr, Annalena Ochs und die Zwillinge Hanna und Helene Heyer übernahmen die Führung durch die Stadt. Sie führten ihre Mitschüler an besonders zerstörte Gebäude. "Dort zeigten sie historische Aufnahmen von vor dem Angriff und nach dem Angriff und die Gruppe konnte sehen, was aus dem Ort oder dem Gebäude heute geworden ist", erklärte die Lehrerin.

Zuletzt besuchten die Schüler den Heidefriedhof. Jiskal Heil und Isabell Pallauf lasen selbstgeschriebene Gedichte vor und zeigten selbstgemalte Bilder. "Zudem suchten wir die Gräber von den Personen, von denen wir zuvor die fiktive Leidensgeschichte gehört hatten", sagte die Lehrerin. "Wir fanden ein Grab, an diesem legten wir Blumen nieder."

Diesen Moment beschrieben viele der Schüler als einen der ergreifendsten des gesamten Projekts. Ebenso fanden sie das Lesen der Namen auf den Sterbeurkunden im Museum als sehr beklemmend. Zora Taube fasste es so zusammen: "Es war das Schlimmste, zu erkennen, dass es Jugendliche wie wir waren, die zu Opfern wurden. Und dass es jederzeit wieder passieren könnte."

"Die Schüler bewerteten sich übrigens untereinander." Sie vergaben 20 Punkte für Inhalt, Idee und Umsetzung des Projekts der Gruppe. Die vier besten Schüler Jiska Heil, Annalena Ochse, Conrad Leps und Tim Kirchner bewerteten noch die sprachliche Leistung. Maximal zehn Punkte waren dort zu erreichen. Das alles werde in eine Note umgerechnet. "Und die trage ich dann ein", sagte die Lehrerin. Nicht nur das machte den Schülern - die sehr objektiv bewerteten, wie die Lehrerin feststellen durfte - Freude.

In ihren anonymen Schreiben lobten sie die Idee, das Lehrbuch beiseite zu legen und sich mit ihrer Stadt und Geschichte auseinanderzusetzen. Viele waren überzeugt, besser Englisch gelernt zu haben als nur aus dem Vokabelheft. Schließlich, so argumentierten einige, habe die Sprache angewandt werden müssen. Lediglich mehr Zeit zum Herausarbeiten der Vorträge hätten sich die Schüler gewünscht, wird bei der Sichtung der Karten deutlich. Das werde sie beim nächsten Projekt der nächsten neunten Klassen einfließen lassen. Denn nach dem erfolgreichen Auftakt, möchte sie gern eine Fortsetzung ausrichten, erzählte Regine Knauer.