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20 Menschen leben im vom Wasser eingeschlossenen Altmarkort Neukamern: Vom Dorf zur Insel

Von Andrea Schröder 21.06.2013, 03:17

Kamern. Seit einer Woche leben 20 Einwohner Neukamerns auf einer Insel. Ihr Ort ist von dem Wasser eingeschlossen, das seit dem Deichbruch bei Fischbeck Richtung Norden strömt. Die Agrargenossenschaft kümmert sich um die Tiere, die nicht evakuiert werden konnten, und versorgt Einwohner per Traktor mit Lebensmitteln.

"Kamern 100 Kilometer" steht auf einem Schild am Ortseingang von Wulkau (Landkreis Stendal) an der Bundesstraße 107. Normalerweise sind beide Orte drei Kilometer voneinander entfernt. Seit den Straßenschlitzungen in den Landesstraßen 18 und 2 sind die Kamernschen nur noch aus Richtung Osten über Rathenow zu erreichen. Das zur Seegemeinde gehörende, rund 60 Einwohner zählende Neukamern nur noch per Traktor. Denn das Dorf ist mit der Flut, die aus dem Süden heranströmt, zur Insel geworden.

Jeden Abend treffen sich die verbliebenen Einwohner auf dem Hof von Aaron Brandt zum Abendbrot. Mittwochabend hatten David Brandt, Sabine und Simeon Simeonov sowie Ruth Wiggert über 60 Eier in die Pfannen gehauen und Rührei für alle gemacht. Die Hühner legen weiter ihre Eier, ebenso werden die Erdbeeren in den nicht überfluteten Gärten rot. "Wir haben uns schon die Zutaten für die Erdbeerböden bestellt", sagt Ruth Wiggert. Die liefert wie andere Lebensmittel, Getränke und was man sonst zum Leben braucht der Chef der Agrargenossenschaft Kamern, Ingo Mangelsdorf. Mitarbeiter Patrick Henke fährt den Traktor.

Fischer Aaron Brandt wollte Geschäft eröffnen

Mittwochabend ist der Hänger voll beladen. Die Feuerwehrbereitschaft Pinneberg hat die aus Rendsburg-Eckernförde abgelöst. Kameraden wollen sich einen Überblick über die Situation verschaffen und Pumpen nach Neukamern bringen. Ronald Liban kehrt mit einem neuen Notsromaggregat, Gaskocher, Grillkohle, Katzenfutter und Lebensmitteln wieder zurück zu seinem Haus. Er war am Morgen eine Stunde zu Fuß nach Kamern durch das teils heftig durch den Wald strömende Wasser gegangen, um nach Rathenow zum Einkaufen zu fahren. Seine Beine sind rotgefleckt von dem verschmutzten Elbwasser. Wathosen hat er für sich und seine Frau nun auch gekauft.

Auf dem Hänger sind auch Essenpakete für die Neukamernschen. Das DRK versorgt die abgeschnittene Seegemeinde, in der immer noch die Evakuierungsstufe zwei gilt. Auch dort sind viele geblieben, sichern gemeinsam mit der Feuerwehrbereitschaft die Notdeiche. Rund 50 Häuser sind geflutet.

In Neukamern sind gut zehn Häuser betroffen. Meist sind es die ausgebauten Keller. In der Tischlerei von Sven Röhl aber steht die Werkstatt im Wasser. Bei seinem Vater fehlten drei Zentimeter, dann wäre sein Wohnbereich geflutet worden. Auf dem Hof stand das Wasser 1,80 Meter hoch. Eine der Holzmieten im Garten ist komplett verschwunden. Durch die Gärten schwimmen Entenfamilien. Der kleine Dorftümpel ist zum See geworden.

Fischer Aaron Brandt, der am Montag seinen 25. Geburtstag feierte, wollte Ende dieses Monats seinen Verkaufsraum im Ort eröffnen. Sein Fischereigewässer hat er im Brandenburgischen an der Havel. Nichts mehr fangen zu können, macht er sich weniger Sorgen. Aber allein durch das ausgefallene Domfest in Havelberg an diesem und das Reiterfest in Schönhausen am nächsten Wochenende hat er schon große Verluste beim Verkauf. Froh ist er, dass für ihn und weitere gewerbetreibende Flutopfer die Kreditzahlungen für ein halbes Jahr ausgesetzt wurden. "Ich hoffe, dass ich mein Geschäft in gut einem Monat wieder regulär weiterführen kann." Auch Hufschmied Ingo Hünemörder ist von der Flut betroffen.

Das Wasser kam urplötzlich, erzählen die Einwohner. Sie bauten noch mit Einsatzkräften verzweifelt einen Notdeich. "Aber es war nichts zu machen", sagt Rolf Brandt. Der Strom wurde abgeschaltet. "Im Keller kochte schon das Wasser", beschreibt Ronald Liban die Situation. "Das Haus meiner Nachbarn ist komplett schwarz", sagt Rolf Brandt. Notstromaggregate sind im Einsatz. Die Agrargenossenschaft im Ort hat noch Strom. Dort müssen noch Kühe gemolken werden, die nicht evakuiert werden konnten. Drei Melker sind vor Ort. "In den vergangenen Tagen haben zehn Kühe abgekalbt. Hätten wir die weggebracht, wären das alles Totgeburten gewesen", sagt Ingo Mangelsdorf. 80 bis 90 Prozent der Acker- und Wiesenflächen stehen unter Wasser. Plattenwege sind weggespült.

Noch sind die vollen Schäden der Flut nicht abzusehen. Doch sind die Kamernschen optimistisch, das zu packen. "Wir helfen uns hier gegenseitig", sagt Klaus Wabbel aus Kamern.