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Töchter erfahren nach 62 Jahren aus der Volksstimme vom Schicksal des verschleppten Jürgen Hettwer Vater verschollen im Straflager Workuta

Von Wolfgang Schulz 10.08.2013, 01:10

Magdeburg l Für Ilona Richter und Sylvia Kraushaar ist es ein Schock: 62 Jahre nach seinem Verschwinden erfahren die beiden Schwestern aus der Volksstimme vom Schicksal ihres Vaters Jürgen Hettwer. Der angebliche Spion starb 1952 im russischen Straflager Workuta.

Ein kleiner Artikel in der Zeitung hat eine große Aufregung verursacht. Am 31. Juli schrieb die Volksstimme in einem Beitrag über eine Gedenkveranstaltung im früheren russischen Straflager Workuta, dass dort der Magdeburger Jürgen Hettwer am 14. Juli 1952 einen gewaltsamen Tod gefunden hat.

"Das war mein Vati", rief daraufhin Sylvia Kraushaar aus Klein Oschersleben unter Tränen in der Redaktion an. "Wir wissen fast gar nichts über sein Schicksal", sagte die 64-Jährige. Ihre Mutter habe 1995 lediglich von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation einen Rehabilitierungsbescheid und 1998 vom Landesverwaltungsamt Halle eine Entschädigung von 450 Mark erhalten. Alles andere liege im Dunkeln. Sie und ihre ein Jahr ältere Schwester Ilona Richter aus Magdeburg würden noch heute unter der Verschleppung und Ermordung des Vaters leiden. "Wir haben damals als Kinder beide einen Knacks wegbekommen", sagen sie.

Einige wenige Daten aus dem Leben von Jürgen Hettwer hat Edda Ahrberg in der Broschüre "Abgeholt und verschwunden" zusammengetragen. Die langjährige Stasi-Landesbeauftragte erforscht im Auftrag der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) die Schicksale von Sachsen-Anhaltern, die zu Beginn der 1950er Jahre von den kommunistischen Machthabern verfolgt wurden. Zwischen 1950 und 1953 verhafteten der sowjetische Geheimdienst MGB und die Stasi mehrere Tausend Menschen in der DDR.

"Wir haben als Kinder immer die Hoffnung gehabt, dass er noch lebt"

140 Frauen und Männer aus Sachsen-Anhalt wurden von sowjetischen Militärtribunalen in der DDR und in Moskau wegen angeblicher Spionage und anti-sowjetischer Agitation zum Tode verurteilt und hingerichtet. Andere, wie Jürgen Hettwer, wurden zu 20 bis 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Workuta nördlich des Polarkreises verschleppt, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen im Bergwerk arbeiten mussten, was sehr viele nicht überlebten.

Der Vater von Ilona und Sylvia Hettwer, der im "Magdeburger Hof" kellnerte, wurde am 24. April 1951 verhaftet und zusammen mit mehreren Arbeitskollegen wahrscheinlich zunächst nach Chemnitz gebracht. Dem damals 29-Jährigen wird Spionage für die Engländer vorgeworfen. Am 17. August 1951 wird er vom Sowjetischen Militärtribunal Nr. 48240 zu 25 Jahren Haft verurteilt. Die beiden mitangeklagten Magdeburger Gerhard Rosenberg (Arbeitskollege von Hettwer) und Gerhard Fieker werden zum Tode verurteilt und am 1. November 1951 erschossen.

"Wir haben als Kinder immer die Hoffnung gehabt, dass unser Vati noch lebt", erinnern sich die Schwestern im Volksstimme-Gespräch. Die Mutter habe viel unternommen, um Auskunft über das Schicksal ihres Mannes zu bekommen. Vergeblich. Zu DDR-Zeiten durfte nicht darüber gesprochen werden. "Den haben die Russen abgeholt", hieß es.

"Auf dem Polizeipräsidium haben sie zu meiner Mutti gesagt: ,Wenn Sie noch mal herkommen, dann schicken wir Sie und Ihre Krabben dahin, wo Ihr Mann ist\'", erinnert sich Sylvia noch heute unter Tränen. Auch die Suche über das Deutsche Rote Kreuz habe nichts gebracht. Beim DRK Magdeburg seien sogar Dokumente verschwunden, die die Mutter vom DRK Hamburg bekommen hatte.

Schließlich wurde Jürgen Hettwer 1955 für tot erklärt. Die Schwestern erhielten dadurch wenigstens eine schmale Halbwaisenrente. "Wir haben unseren Vati nie vergessen", sagen die beiden. Sein trauriges Schicksal schmerze noch heute.

"Es wäre schön, wenn wir endgültige Klarheit über sein Schicksal hätten"

Erst nach der Wende können die Ehefrau und ihre Töchter Aufklärung verlangen. Bis dahin haben die sowjetischen und DDR-Behörden alles versucht, um dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte zu verheimlichen. Viele Daten wurden gefälscht. Auch bei der Todesursache von Jürgen Hettwer gibt es Ungereimtheiten. Der Vorgang Nr. 054763 berge eine Urkundenfälschung, schrieb der Spiegel 1997.

Der Häftling Jürgen Hettwer starb laut Attest an "Meningitis". Ein Obduktionsprotokoll liegt dabei, wonach Hettwers Schädel durch Fremdeinwirkung zertrümmert worden war. Im Rehabilitierungsbescheid vom 19. Juni 1995 aus Moskau, in dem Jürgen Hettwer posthum völlig rehabilitiert wurde, heißt es: "Während der Strafverbüßung in der 10. Abteilung der Retschnij-Korrektionsarbeitslager des MWD (Stadt Workuta) verstarb er am 14. Juli 1952 durch Schädelzertrümmerung infolge eines Arbeitsunfalles im Schacht 29."

"Es wäre schön, wenn wir endgültige Klarheit über das Schicksal unseres Vatis bekommen könnten", sagen die Schwestern. Das Landesverwaltungsamt Halle habe schon 1998 mitgeteilt, dass Nachfragen zwecklos seien. So hoffen die beiden nun auf Edda Ahrberg. Diese leitete vor wenigen Tagen die deutsche Delegation zum 60. Jahrestag des Massakers in Workuta. "Dort habe ich erfahren", sagte Ahrberg der Volksstimme, "dass alle Akten inzwischen von Workuta in die Komi-Landeshauptstadt Syktywkar gebracht worden seien." Sie werde aber versuchen, von den dortigen Behörden Auskunft zu erhalten. Das dauere aber etwa neun Monate.

Den Schwestern Ilona und Sylvia ist das nicht zu lang. "Wir haben unser ganzes Leben gewartet." Sie würden sich aber freuen, wenn in Workuta ein Gedenkstein mit den Namen aller Opfer aufgestellt werden könnte, auf dem auch der Name ihres Vaters verewigt ist.