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Die Volksstimme-Aktion hat für viele Menschen an den Flüssen ein Zeichen der Hoffnung gesetzt. Von Hagen Eichler Leser helfen: "Daraus schöpfen wir unsere Kraft"

Die Wassermassen vom Juni 2013 waren gewaltig, die folgende
Hilfsbereitschaft ist es aber auch. Die Volksstimme schließt ihre Aktion
"Leser helfen" ab - mehr als 90 Prozent der Spenden sind verteilt.

30.01.2014, 01:22

Kamern/Magdeburg l Das Wasser kam mit einem Knall. Sigrid Butscher stand neben ihrem Haus und starrte auf den Notdamm, den die Helfer direkt hinter ihrem Gartenzaun errichtet hatten und der nun nicht länger halten wollte. "Da kam eine Welle auf mich zu, doppelt so hoch wie der Zaun", erinnert sich die 72-Jährige. Ihr Haus am Nordrand von Kamern (Landkreis Stendal) steht in einer Senke, in Sekunden rauschte die schwarze, stinkende Brühe in den Garten, überflutete die Hecke, die Topfpflanzen und neben der Veranda den unteren Teil des Käfigs, in dem die Wellensittiche ängstlich flatterten.

Nie wird die Witwe diesen 13. Juni 2013 vergessen, den Tag, an dem sich das Wasser aus dem Kamernschen See auf ihr Grundstück ergoss. Eine Versicherung gegen Elementarschäden besaß sie nicht, sie hielt so etwas für unnötig. "Das hätte ich ja nie gedacht, dass das Wasser einmal bis zu mir kommt." Dass sie noch heute ihr Haus bewohnen kann, verdankt sie der staatlichen Fluthilfe und privaten Spendern. Zum Beispiel den vielen Volksstimme-Lesern, die Geld überwiesen. 10.000 Euro flossen aus der Aktion "Leser helfen" an Sigrid Butscher.

Insgesamt kamen bei dem Gemeinschaftsprojekt von Volksstimme, Paritätischem Wohlfahrtsverband und Investitionsbank mehr als 900.0000 Euro zusammen. 91 Prozent davon sind bereits an Flutopfer ausgezahlt. Ein kleiner Rest wird in den nächsten Wochen verteilt - denn noch immer zeigen sich neue Schäden.

"Bei dieser Aktion haben viele doppelt so viel wie sonst gegeben."

"Das Wasser ist weg, aber viele Probleme kommen jetzt erst, Stück für Stück", sagt Bernd Zürcher. Der 59-Jährige kennt die Schäden wie kaum ein anderer, als Regionalleiter beim Paritätischen hat er für die "Leser helfen"-Aktion Dutzende Opfer besucht, Schäden begutachtet, Anträge ausgefüllt. "Gerade war ich in Wust, da muss ein Haus wahrscheinlich abgerissen werden, von dem man das anfangs gar nicht gedacht hätte." Der 59-Jährige ist gelernter Baufacharbeiter, er weiß, was eine Sanierung kostet oder eine neue Heizung. Er hat versucht, nüchtern auf die Schäden zu blicken. Doch er weiß, dass bei den Flutopfern weit mehr kaputtgegangen ist. "Da sieht man wunderschöne Bücher im Wasser schwimmen oder Fotos von den Urgroßeltern, das geht einem schon nahe."

Einzelbeträge zwischen 2000 und 20.000 Euro hat die Aktion "Leser helfen" an Flutopfer ausgezahlt, maximal 20 Prozent des Schadens. Beim Verteilen hat das Spendenkomitee Härtefälle besonders unterstützt: das alte Paar, das keinen Kredit mehr bekommt, oder die Familie, die durch Krankheit schon zuvor schwer getroffen war.

"Wir haben vor allem versucht, den Menschen ganz schnell zu helfen", sagt Antje Ludwig, Vorstandsreferentin beim Paritätischen. Ein einfaches Erfassungsblatt galt es auszufüllen, die Regionalleiter überschlugen die Schadenssummen, dann kam das Geld. Im Schnitt waren es 5000 Euro. "Das hat keine staatlichen Leistungen oder Versicherungszahlungen ersetzt, wir haben nur Lücken aufgefüllt", sagt Ludwig.

Ebenso wichtig wie Schnelligkeit war maximale Transparenz. Jeder Spender wurde in der Volksstimme genannt. Viele riefen an und versicherten sich persönlich, dass ihr Geld unbürokratisch hilft. Dass am Ende mehr als 900000 Euro zusammengekommen sind, hätten die Initiatoren selbst nicht gedacht. "Unsere Spendenaktion, die wir sonst immer vor Weihnachten starten, lebt davon, dass viele, viele Leser kleine Beträge spenden, 5 oder 10 oder 20 Euro", sagt Volksstimme-Leser-Obmann Peter Wendt. "Bei dieser Aktion aber haben viele doppelt so viel gegeben." Und noch etwas freut ihn: Trotz der schnellen Entscheidungen hätten alle Spendenzusagen Bestand, in keinem Fall musste ein Empfänger etwas zurückzahlen. "Das zeigt, dass alle sehr sorgfältig gearbeitet haben."

"Wir haben wieder gemerkt, dass wir zum Helfen da sind."

Auf den ersten Blick sahen die Schäden entlang der Elbe, der Saale und an den kleinen Nebenflüssen ähnlich aus. Das Wasser flutete Keller und Wohnungen, zerstörte Waschmaschinen und Heizungsanlagen, hinterließ schimmelnde Sofas und stockfleckige Kleidung, erstickte Bäume und Sträucher. Die Menschen aber reagierten sehr unterschiedlich, sagt Spendenverteiler Zürcher. Es gab diejenigen, die aus Verzweiflung in Stockstarre verfielen. Andere gönnten sich keine Pause. "Ich dachte damals: So, nun ist es passiert", erinnert sich Sigrid Butscher, "jetzt musst du sehen, wie es weitergeht." Schon am Tag nach der Katastrophe wagte sie sich wieder auf ihr Grundstück, watete durch das brusthohe Wasser ins Haus. Sie musste ja nach ihren Tieren sehen, nach den Vögeln, den sechs Katzen und den 80 Stockenten, die nun durchs Wasser paddelten. Und dann ging sie auch schon wieder frühmorgens los, um die Volksstimme auszutragen. "Das war das Schönste, endlich kam ich wieder unter Leute und konnte etwas machen."

Ihre Wohnung ist heute mit gespendeten Möbeln eingerichtet. Im Frühjahr wird sie wieder Topfblumen pflanzen. Sie will bleiben, jetzt allerdings mit einem Versicherungsschutz gegen Elementarschäden. Die Flut, sagt sie, hat die ganze Region zusammenrücken lassen. "Die Hilfsbereitschaft ist in den letzten Jahren immer mehr verflacht. Aber jetzt haben wir wieder gemerkt, dass wir zum Helfen da sind."