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Flucht nach Westberlin Das letzte Opfer: Mit dem Gasballon in den Tod

Am Morgen des 8. März 1989 stürzt ein Mann aus einem Ballon in den
Garten einer Villa im Westberliner Stadtteil Zehlendorf. Er ist sofort
tot. Es ist Winfried Freudenberg aus dem damaligen Bezirk Magdeburg -
der letzte Tote an der Berliner Mauer.

07.03.2014, 01:25

Magdeburg (vs) l Winfried Freudenberg, geboren am 29. August 1956 in Osterwieck, wächst in Lüttgenrode im Kreis Halberstadt auf, in unmittelbarer Nähe zur innerdeutschen Grenze. Nach einer Elektrikerlehre studiert er Informationstechnik in Ilmenau. Im Herbst 1988 heiratet er die Diplomchemikerin Sabine W., doch das Paar sieht für sich keine beruflichen Perspektiven in der DDR. Es will nicht länger hinnehmen, dass ihnen vom Staat "Reisen, Tagungen, Forschungsmöglichkeiten und Kontakte zu Menschen in westlichen Ländern" vorenthalten werden, wie Sabine Freudenberg später erzählt.

Die beiden wohnen in Ostberlin und planen ihre Flucht mit einem Gasballon nach Westberlin. Die Akten der Westberliner Polizei und der Stasi sowie Aussagen von Zeugen und Verwandten erlauben eine realitätsnahe Rekonstruktion des tragischen Ereignisses.

Um an das Erdgas zu gelangen, nimmt Winfried Freudenberg eine Arbeitsstelle beim Energiekombinat im Bereich Gasversorgung an. In unauffälligen Kleinmengen kauft das Ehepaar Polyäthylenfolien, wie sie für Frühbeetfenster und Zelte Verwendung finden.

Im Winter 1988/89 fertigen die Freudenbergs aus den 13 Meter langen und zweieinhalb Meter breiten Bahnen mit einem Spezialklebeband in ihrer Wohnung die Ballonhülle - 13 Meter hoch, elf Meter im Durchmesser, umspannt mit einem Netz aus Verpackungsschnur. Unter dem Ballon ist ein 40 Zentimeter langes Rundholz als Sitzstange befestigt.

Monatelang arbeiten die Freudenbergs nachts an ihrer Konstruktion. Als im Februar alle Vorbereitungen getroffen sind, warten sie täglich auf günstigen Wind. Am Abend des 7. März weht endlich ein mäßiger Nordostwind.

Mit dem Trabant schaffen die Freudenbergs den Ballon und alles, was sie mitnehmen wollen, zu einer Reglerstation der Berliner Gasversorgung. Winfried Freudenberg hat einen Schlüssel zu der Anlage. Gegen Mitternacht zapft er die Station an und beginnt, die Hülle mit Erdgas zu füllen. Der Ballon richtet sich auf und wird trotz der Dunkelheit weithin sichtbar.

Stundenlang in eisiger Kälte auf einem Holzstock

Ein Kellner, der auf dem Heimweg ist, ruft die Polizei - die beiden sind entdeckt. "Los, steig auf!", habe sie Winfried zugerufen, schildert Sabine Freudenberg Jahre später die dramatische Situation. "Das Gas reicht nicht für uns beide!"

Es ist kurz vor zwei, als ein Funkstreifenwagen vor der Reglerstation bremst. Winfried Freudenberg kappt das Ankerseil und steigt auf. Ohne seine Frau steigt er schneller und höher, als er berechnet hatte. Die Rekonstruktion seiner Flugroute lässt den Schluss zu, dass er mit etwa 20 Stundenkilometern unbemerkt die Grenze überfliegt und den Flugplatz Tegel erreicht, wo er wahrscheinlich zu landen versucht.

Die Reißleine, die den Ballon öffnen und sinken lassen soll, scheint nicht funktioniert zu haben. Er wirft Ballast als Zeichen seiner Notlage über dem Flughafen ab. Nun steigt er noch höher. Über Tegel gerät er in eine Nordströmung. Demnach muss er weit über 2000 Meter hoch gestiegen sein, denn erst hier wirkt die andere Windrichtung.

Mit gut einer halben Stunde Flug hat Freudenberg gerechnet. Statt dessen ist er mehrere Stunden in großer Höhe und eisiger Kälte auf einem Holzstock kauernd unterwegs. Im Morgengrauen wird er von einem Spaziergänger hoch über dem Teufelsberg gesichtet. Der hält das Flugobjekt für einen Wetterballon.

Gegen 7.30 Uhr stürzt Winfried Freudenberg über Zehlendorf ab. Was genau zu dem Absturz führte, ist ungeklärt. Die Westberliner Polizei vermutet, dass es ihm schließlich doch gelang, Gas abzulassen, so dass der Ballon sehr schnell fiel. Durch Windeinflüsse habe er dann noch einmal Auftrieb erhalten, wodurch eine Bremswirkung entstand, die Winfried Freudenberg aus seinen Halterungen schleuderte und zu Boden fallen ließ. Die leere Hülle des Gefährts landet im Geäst eines Baumes an der Potsdamer Chaussee, Ecke Spanische Allee. Nur wenige hundert Meter entfernt schlägt Winfried Freudenberg im Garten einer Villa auf. Fast alle Knochen sind gebrochen, kein inneres Organ ist unverletzt. Er ist sofort tot.

Bei der Beerdigung kreisen Hubschrauber über dem Ort

Bereits zweieinhalb Stunden vorher, morgens gegen fünf Uhr, klingelt bei Winfrieds Bruder Reinhold Freudenberg in Lüttgenrode das Telefon. Der ABV ruft an und fragt den Ahnungslosen, ob der Bruder bei ihm sei. "Später habe ich erfahren, dass unser Haus umstellt war. Sie wussten offenbar, dass Winfried fliehen wollte, und haben geglaubt, dass er es in seinem Heimatdorf direkt an der Grenze versucht", erzählte er Jahre später der Volksstimme.

Aus dem Westfernsehen erfährt Freudenberg Näheres vom Fluchtversuch seines Bruders. Sabine Freudenberg war zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft. Ein Verfahren wegen versuchter Republikflucht endet mit einer dreijährigen Bewährungsstrafe. Am 27. Oktober 1989 wird sie amnestiert.

Am 7. April wird der Leichnam von Winfried Freudenberg nach Ostberlin überführt, nachobduziert und eingeäschert. Am 24. April 1989 wird er in Lüttgenrode beigesetzt. Mit geringstmöglichem Aufsehen, wie Reinhold Freudenberg erzählt. Ohne Todesanzeige in der Zeitung. Hubschrauber kreisen über Lüttgenrode, um zu verhindern, dass die Beerdigung aus dem nahen Westen gefilmt wird. Und mehrere Stasileute waren dabei. "Wir mussten sie als Kollegen von Winfried ausgeben. Sie saßen sogar mit am Kaffeetisch bei uns in der Stube."

(Quellen: chronik-der-mauer.de, Spiegel, Berliner Morgenpost, regio.m)