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Gastbeitrag der Stasi-Landesbeauftragten Birgit Neumann-Becker Leben in der DDR: Schöne Alltagswelt und Zwang

Die Lesung des Autors Roman Grafe in einer Stendaler Schule und die
Bemerkung einer Lehrerin ("Wenn man sich in Diktaturen an die Regeln
hält, passiert einem nichts") hat im Land eine heftige Diskussion
entfacht. Theater der Altmark und Volksstimme laden deshalb am Sonnabend
zur Podiumsdiskussion unter dem Titel "Zur Anpassung keine
Alternative?" ein.

21.03.2014, 01:16

Magdeburg/Stendal (vs) l An diesem Mittwoch hat Birgit Neumann-Becker, Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, dem Landtagspräsidenten Detlef Gürth den 20. Tätigkeitsbericht ihrer Behörde übergeben. In Vorbereitung auf die Diskussion am Sonnabend, bei der sie ebenfalls im Podium sitzt, hat Becker für die Volksstimme einen Gastbeitrag zur Debatte im Zusammenhang mit der Lesung von Roman Grafe geschrieben:

Die Einrichtung der Behörde der Landesbeauftragten für Stasiunterlagen war vor 20 Jahren eine Antwort auf eine immer noch neue historische Situation: Die Menschen wollten rehabilitiert werden, verstehen, aufklären und nicht ad acta legen. Die strafrechtliche Verfolgung ehemaliger Verantwortlicher fiel milde aus. In Landtag, Staatskanzlei, Ministerien waren bis 2006 ca. 130000 Mitarbeiter überprüft worden, 94 Prozent waren unbelastet. Von den sechs Prozent stasi-belasteten Mitarbeitern (ca. 6300) wurden etwa zwei Drittel nach Einzelfallentscheidungen weiterbeschäftigt. Siegermentalität sieht anders aus.

Der Wunsch nach Aufarbeitung aber blieb. Dies lässt sich verstehen aus der nicht vorhandenen Öffentlichkeit in der DDR. Zu lange war zu vieles verschwiegen worden: die Massenvergewaltigungen der Roten Armee, die sowjetischen Militärtribunale, die Verfolgung von Sozialdemokraten, Christen, Zeugen Jehovas, Andersdenkender, Schüler, Ausreisewilliger ... Die meisten Menschen haben in ihrer Familie, in ihrer Biografie eine Geschichte, die erst seit 1989 offen erzählt werden kann. Sei es eine Geschichte von Betroffenen oder von Verantwortlichen. Die Behörde des Bundes- und der Landesbeauftragten, die Opferverbände, die Archive haben hier viel beigetragen und werden noch lange bei der Klärung von Biografien helfen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, zu der Zeitzeugenberichte und Forschung gehören, legt Zeugnis ab von Repression, aber auch von Opposition und Widerstand.

Die Debatte wird sehr emotional geführt, es wird darum gerungen, wer die "richtige" Erinnerung an die DDR hat. 25 Jahre nach dem Ende der DDR erleben wir aber einen neuen Perspektivenwechsel: Zunehmend wird die DDR ein Thema der Zeitgeschichte, die erste Generation der nach 1989 Geborenen ist längst erwachsen. Damit verändert sich viel, ganz neue Fragen werden gestellt, die bringen uns weiter.

Die Diskussion um das "richtige" Bild der DDR scheint mir auch ein Kampf um die Köpfe der Jugend zu sein. Es muss aber darum gehen, die nächsten Generationen nicht in die alten Kämpfe des Kalten Krieges zu verwickeln. Wir sollten ihnen einen eigenen Blick, eigene Fragen und Urteile ermöglichen. Dazu ist es wichtig, das eigene Erleben zu relativieren und als Teil einer wesentlich komplexeren Wirklichkeit zu verstehen. Schulprojekte, die sich mit der DDR-Geschichte befassen, sollten deshalb die Auseinandersetzung mit mündlichen und schriftlichen Quellen beinhalten.

Ethische Positionen überdenken: Mit Vaclav Havel von der Charta 77 haben viele in den unabhängigen oppositionellen Gruppen der 1970er und 1980er Jahre über das "richtige Leben im Falschen" nachgedacht. Über die Frage also, wie man sich im unethischen (falschen) Rahmen ethisch richtig verhalten könne. Diese Frage ist angesichts der globalen Herausforderungen bis heute aktuell. Bezogen auf die DDR hieß sie zum Beispiel konkret: wie gehe ich mit der Wehrpflicht um? Welchen Preis bezahle ich für das Abitur oder für ein Studium? Welchen Weg will ich gehen?

Unabhängig davon, welche Antwort auf diese Frage gegeben wurde und wo jemand seine "rote" Linie zog, hatte er verstanden, dass er sich - unfreiwillig - einer höchst problematischen ethischen Herausforderung gegenüber sah.

Die individuelle Erfahrung nicht verallgemeinern: Der Potsdamer Zeitgeschichtler Martin Sabrow spricht von drei Erinnerungsarten an die DDR. Er benennt die Diktatur-Erinnerung derer, die in Konflikt mit dem repressiven System geraten sind; die Arrangement-Erinnerung derer, die einen Weg suchten sich innerhalb der Möglichkeiten, sich anständig zu verhalten und die Fortschritts-Erinnerung, die er bei denjenigen findet, die die DDR und den Kommunismus bis heute für das überlegene System halten. Zwischen Vertretern dieser drei grob skizzierten Gruppen ist das Gespräch häufig bis heute schwierig.

Allerdings: Viele Betroffene politischer Verfolgung räumen ein, dass sie freundliche Alltagserinnerungen anderer stehen lassen können. Mir scheint aber häufig umgekehrt, dass es Menschen schwerfällt, ihre Erinnerung an ein "gutes Leben" in der DDR mit den dunklen Seiten derselben DDR in Beziehung zu setzen. Es gilt zu verstehen, dass beide Seiten Teil des Systems DDR waren. Die Diktatur organisiert ein angenehmes Alltagsleben für die Mehrheit. Sie setzt die Grenzen, innerhalb derer sich die Regierten bewegen dürfen und benutzt Politik, Justiz, Polizei und Bildung zur Durchsetzung der Ziele. Jeder kannte im Ungefähren den Preis der Abweichung von der Norm. Es ist an der Zeit, dieses Nebeneinander von freundlicher Alltagswelt und Zwangsmaßnahmen gegen Andersdenkende als die zwei zusammengehörenden Seiten der kommunistischen Diktatur wahrzunehmen und zu verstehen. Die eigene individuelle Erfahrung kann da nicht die ganze Realität widerspiegeln.

Als Schlussfolgerung aus diesen Gedanken wünsche ich mir 25 Jahre nach der friedlichen Revolution viel mehr Fragen an die jeweils "anderen". Der Austausch von Behauptungen und statischen Positionen wird uns nicht weiterführen. Die Frageform aber signalisiert Interesse und Mitgefühl.

Es gibt keine starke Tradition des ehrlichen Gesprächs zwischen ehemaligen Gegnern. Aber für Demokratie braucht es Menschen, die Demokratie können. Dazu gehört Mitmenschlichkeit, Kommunikation, Ehrlichkeit, Verständnis und Klarheit. Meine Hoffnung ist, dass möglicherweise in repräsentativer Weise in Zukunft moderierte Gespräche zwischen ehemaligen Opponenten und Verantwortungsträgern möglich sein können. Dies wäre ein Qualitätssprung.