1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Abschiebung für "Feuerwehrmann" Lennard?

Vierjähriges Unfallopfer darf nicht in seiner Tagesstätte bleiben Abschiebung für "Feuerwehrmann" Lennard?

Lennard ist kein unrechtmäßiger Einwanderer. Er hat das Recht hier zu
sein und das Recht auf einen Kindergartenplatz. Im August 2013 erlitt er
durch einen Autounfall Hirnverletzungen, deren Folgen ihm bis heute den
Alltag erschweren. Jetzt wird ihm ein Betreuungsplatz in Bellingen
angeboten - Mutter Selina empfindet das als Abschiebung für einen
Jungen, der einfach nur der alte sein will.

Von Birgit Schulze 22.03.2014, 02:20

Tangerhütte l In wenigen Tagen läuft die "Probezeit" für den vierjährigen Lennard, der ein Fan der Trickfilmfigur "Feuerwehrmann Sam" ist, in seiner alten Kindertagesstätte "Anne Frank" in Tangerhütte ab. Mutter Selina Strauß kann nicht mehr schlafen, weil sie nicht weiß, ob ihr Kind ab April überhaupt noch in den Kindergarten gehen darf. Inzwischen hat sie ein Angebot des Jugendamtes in Absprache mit der Einheitsgemeinde Stadt Tangerhütte bekommen, ihren Sohn ab April in Bellingen betreuen zu lassen. Doch sie möchte, dass ihr tapferer kleiner Sohn, der schon so viele Fortschritte gemacht hat, in seinem angestammten Kindergarten und bei seinen alten Freunden bleiben darf.

Lennard hatte im vergangenen Sommer als Folge eines schlimmen Autounfalls ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten, er lag im Wachkoma und wurde per Trachealkanüle von außen durch die Luftröhre beatmet (Volksstimme berichtete). Ab April soll er nun täglich per "Individualverkehr", mit einem Auto und vielleicht sogar wechselnden Fahrern, nach Bellingen und zurück gefahren werden. Und das, obwohl er praktisch neben seiner alten Tagesstätte wohnt und Autofahren für ihn nach wie vor mit dem Unfall zu tun hat - nicht nur für Mutter Selina ein Kopfproblem.

Im Februar sagte man zu, bald ein Angebot zur bedürfnisorientierten Betreuung vom Jugendamt vorzulegen. Erst eine Woche später erfuhr sie auf eigene Nachfrage von der geplanten Unterbringung in Bellingen. Hintergrund ist die Einstufung als Integrationskind, die erst auf Antrag der Mutter beim Jugendamt erfolgte. "Als der Unfall passierte, wurde uns von der Kindergartenleitung in Tangerhütte zugesagt, wir bräuchten uns keine Gedanken machen, der Platz für Lennard bleibe erhalten, egal, wie lange es dauert", erzählt Großmutter Sylvia Fleischer.

Sie und ihr Mann Jens-Uwe kämpften auch dafür, dass der Kontakt zu den Gleichaltrigen nicht abreißt. Seit Januar geht Lennard wieder in seine alte Tagesstätte, "zur Probe", wie es heißt und als "Regelkind" ohne Integrationsstufe. Die soll er nun ab April bekommen, nachdem die Erzieher der Einrichtung der Mutter zur Beantragung geraten hatten. Als Integrationskind ist aber keiner der vier vorhandenen Integrationsplätze in Tangerhütte für ihn frei und selbst wenn im August ein Integrationskind zur Schule kommen soll, wie Mutter Selina gehört hat, soll er in Bellingen bleiben und nicht nach Tangerhütte zurückkehren.

Besonderer Betreuungsbedarf festgestellt

Die Absicht, mit einer Förderpädagogin das Bestmögliche für Lennard zu wollen, bewerten Großmutter und Mutter positiv, allein mit dem Ergebnis haben sie Probleme. "Ich fühle mich veräppelt und hingehalten, ich muss fünfmal pro Woche nach Stendal fahren, renne von Pontius zu Pilatus und bin doch nicht weiter als vorher", sagt die junge Frau, die selbst noch unter den Folgen des Unfalls leidet.

"Soweit ich weiß, steht es mir frei, die Integrationsstufe für Lennard anzunehmen und unter diesen Voraussetzungen möchte ich sie nicht", sagt sie. Von der Kitaleitung werde in diesem Fall inzwischen von Kindswohlgefährdung gesprochen, erzählt sie weiter.

Auch Sebastian Stoll, zuständiger Dezernent beim Landkreis, spricht auf Volksstimme-Nachfrage davon, dass im Fall einer Ablehnung der Integrationsstufe vom Jugendamt geprüft werde, wie mit dem amtlich festgestellten, besonderen Betreuungsbedarf umgegangen wird. Im Zweifelsfall könnte es eine Verfügung des Amtes geben. Bisher wird Lennard aber auch als Regelkind betreut - per Ausnahmeregelung.

Er fahre inzwischen mit seinen Freunden im Kindergarten Tret-Traktor und habe sogar schon wieder Fußball gespielt, trotz seiner Einschränkungen, die er beim Laufen noch hat, erzählt Sylvia Fleischer. Er macht viele Fortschritte und doch soll er abgeschoben werden, so empfinden es Mutter und Großmutter. Sie werden sich jetzt an einen Anwalt wenden, um Unterstützung zu bekommen.

Auch das Fernsehen ist inzwischen auf ihren Fall aufmerksam geworden. Am 2. Mai wird Selina Strauß zusammen mit Ersthelfer Andreas Bredow in der MDR-Sendung "Unter Uns" zu Gast sein und gegen 22 Uhr ihre Geschichte erzählen.

Sebastian Stoll erklärte im Volksstimme-Gespräch: "Die Integrationsstufe ist ja nicht festgenagelt, wenn im Rahmen der Betreuung in Bellingen und der intensiven Zusammenarbeit mit dem Jugendamt festgestellt wird, dass der Genesungsverlauf so vorangeschritten ist, dass Lennard wieder regulär betreut werden kann, wäre auch der Weg in die Tangerhütter Einrichtung wieder offen - sofern es die Kapazität zulässt." Doch die ist derzeit voll ausgeschöpft - wie in vielen Tagesstätten.

Mutter Selina bekommt von Menschen, die sie durch die Berichte in der Volksstimme kennen, viel Zuspruch, weiter zu kämpfen. "Ich habe 14 Tage lang am Bett dieses Kindes gesessen und um sein Leben gebangt, ich bin dünnhäutig geworden", sagt Großmutter Sylvia Fleischer und mit Blick auf ihre Tochter: "Alle, die da helfen wollen, vergessen manchmal, dass da noch jemand ist, der Hilfe braucht."