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Engagement für Versöhnung Jakob Hirsch: Der zweifelnde Optimist

Jakob Hirsch ist ein Symbol für eine ganze Generation europäischer Juden. Geprägt von Ablehnung und Konflikten und doch mit den inneren Hoffnung auf Frieden. Volksstimme-Redakteur Lion Grote sprach kurz vor seinem 90. Geburtstag mit ihm über Israel, Deutschland und die Lehren der Geschichte.

21.06.2014, 01:16

Herr Hirsch, Sie werden am Montag 90. Feiern Sie Ihren Geburtstag?
Jakob Hirsch: Ja, natürlich. Am Wochenende zunächst mit der Familie und am Montag ist hier dann "Open-House". Wer kommt, kommt und wer nicht kommt, kommt nicht.

1924 hat für Sie in Halberstadt alles begonnen. Haben Sie überhaupt noch Erinnerungen an Ihre frühe Kindheit?
Das ist schwer zu beantworten. Als ich das erste Mal wieder nach Halberstadt zurückkam, hatte ich überhaupt keine Erinnerungen. Aber da ich inzwischen wieder öfter da war, vermischt sich vieles mit den Geschichten und den Bildern. Man weiß dann gar nicht mehr, was alt ist und was einem inzwischen in den Kopf gekommen ist. Aber ich habe bis heute Kontakte nach Halberstadt, zum Beispiel zur Moses-Mendelsohn-Akademie. Der Kontakt wird zwar weniger, aber in Gedanken bin ich immer noch bei der Stadt.

Ihre Eltern waren überzeugte Zionisten. Ich kann mir vorstellen, dass der Unterschied zwischen dem geschützten Bereich zu Hause und der aufgeheizten Stimmung ab 1933 sehr groß war. Wie haben Sie das als Kind erlebt?
Es war im Grunde genau so, wie Sie es beschreiben. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal mit einigen jüdischen Freunden auf der Straße einer Gruppe der Hitlerjugend begegnet bin - das war für mich schockierend. In meine Klasse kamen dann auch immer mehr Schüler, die die allgemeinen Schulen verlassen mussten. Die haben uns dann natürlich ausführlich berichtet, was sie erlebt haben. Ich war zwar zu Hause und in der Schule isoliert, aber eben doch nicht vollkommen.

Hatten Sie Angst?
Ich glaube nicht. Das war ja noch vor 1938. Ich glaube auch nicht, dass ich als kleiner Junge alles mitbekommen habe. Ich weiß aber noch, als ich einmal weinend zu meiner Mutter kam und sie fragte, ob das Judenblut, das im Horst-Wessel-Lied vom Messer spritzt, auch mein Blut sei. Das hat mich natürlich schockiert und nervös gemacht, aber Angst würde ich das nicht nennen. Das war noch vor der Periode der Angst und wenn die Angst da war, dann kam sie nicht zu Jungen in meinem Alter.

Wie sehr war die Entscheidung Ihrer Eltern, Deutschland zu verlassen, durch die Machtergreifung beeinflusst?
Das ist eine Frage, die ich mir bis heute stelle. Meine Eltern waren ja immer zionistisch tätig. Mir war auch immer klar, dass wir das Ziel haben, nach Palästina zu gehen. Aber wann das ohne Hitler geschehen wäre, weiß ich nicht.

Ein ganz besonderes Abenteuer muss ja die Schiffsreise von Triest nach Haifa gewesen sein, oder?
Das war es auch! Daran erinnere ich mich noch genau. Wenn auch manches vielleicht Fantasie ist.

Ich würde es trotzdem gerne hören.
Es war ja ein ganz normales Passagierschiff, also nicht nur für Flüchtlinge. Auch viele Kinder waren dabei und wir hatten während der Fahrt so wenig wie möglich mit den Eltern zu tun. Wir waren sehr mit uns beschäftigt und hatten immer etwas zu spielen oder etwas zu erfinden. Es war so ein bisschen wie bei einem Ferienausflug. Wir haben nicht an den Zweck der Reise gedacht, sondern den Moment genossen.

Wie sehr haben Sie dort dann mitbekommen, was in Deutschland passierte?
Verhältnismäßig wenig. Zumindest nicht zwischen den Jahren 1935 und 1938. Aber als die Nachrichten zur Reichskristallnacht kamen, war man natürlich besorgt, aufgeregt und frustriert. Von da an kamen immer wieder schlechte Nachrichten. Das zog sich bis der Weltkrieg begann, der dann natürlich alles überdeckt hat. Die Aufregung meiner Eltern und meiner Kameraden hat sich aber natürlich immer auch auf uns Kinder übertragen. Was mit den Juden in Europa passierte, wurde uns ja erst viel später klar. Und das war ein großer Schock. Auf die Idee mit den Vernichtungslagern kam man doch gar nicht. Man wusste zwar, dass die Menschen in Lagern sind und dass es ihnen sehr sehr schlecht geht, aber die genauen Umstände kannten wir nicht.

Sie hatten ja auch noch Verwandte in Deutschland.
Ja, mein Onkel und meine Tanten lebten in Berlin. Mit denen waren wir auch weiter im Kontakt. Erst mit Briefen und später dann mit Rotkreuz-Briefen. Jedes Mal, wenn eine solche Nachricht ankam, war das sehr aufregend für meine Eltern. Dann wurde immer diskutiert, ob die in den Briefen vielleicht mehr sagen wollen, als drinsteht. Sie waren jedenfalls sehr besorgt. Aber diese Briefe haben dann auch aufgehört.

Was ist mit Ihrem Onkel und Ihrer Tante geschehen?
Sie wurden beide nach Theresienstadt gebracht, wo mein Onkel auch gestorben ist. Meine alte Tante wurde nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

Nun waren Sie zwar aus Deutschland raus, konnten aber auch in Jerusalem nicht in Frieden leben. Auch dort gab es Anschläge auf Juden.
Ja, die arabischen Unruhen haben uns natürlich sehr beschäftigt. Zwischen 1936 und 1939 war das für uns hier der größte Einfluss auf unser Leben. Ich habe das aber nie verbunden. Das Leben in Deutschland war in den Hintergrund getreten. Das Leben hier hat mich vollständig beschäftigt und beeindruckt. Ich hatte nie das Gefühl sozusagen vom Regen in die Traufe gekommen zu sein. Gedanken an Deutschland haben mich damals nicht sehr beschäftigt. Deutschland war nicht mehr mein Land. Ich war zu sehr verbunden mit dem, was hier passierte.

Gerade Ihre Jugend war ja doch sehr geprägt von Konflikten, die von außen kamen. Haben Sie sich manchmal um eine friedliche Jugend betrogen gefühlt?
Betrogen nicht. Aber dass man sich im Laufe der Jahre oft eine friedliche Atmosphäre gewünscht hat, ist klar. Man sagt zwar, die Schweiz wäre langweilig, aber es hat eben auch seine Vorteile, in einem langweiligen Land zu leben. Auf der anderen Seite stamme ich aus einer zionistischen Familie und unser Ziel war klar. Dass das mit so vielen Schwierigkeiten und Kriegen zusammenhing, war vielleicht übertrieben. Man hätte sich gewünscht, etwas weniger davon abzubekommen. Ich habe mir aber nie gewünscht, irgendwo anders zu sein. Das ist mein Land und man darf nicht nur hoffen, sondern muss dann auch selber aktiv werden, um die Situation zu verbessern.

Aktiv zu werden hat bei Ihnen auch bedeutet, an Kriegen teilzunehmen. War das eine Form der Pflichterfüllung oder auch Überzeugung?
Das war Pflicht aber, auch Pflicht mit vollkommener Überzeugung. Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Jom-Kippur-Krieg.

Im Nahen Osten und gerade auch in Israel spitzt sich die Lage in diesen Tagen wieder gefährlich zu. Hat die Welt aus Ihrer Sicht aus den Konflikten der Vergangenheit überhaupt gelernt?
Tja, das ist eine schlechte Zeit so etwas zu fragen. Man braucht ja nur auf den Irak zu blicken und auf das, was dort passiert. Ich habe gerade im letzten halben Jahr das Gefühl, dass sich die Welt gar nicht geändert hat. Und wenn sie sich geändert hat, dann bestimmt nicht zum Besseren. Wenn ich sagen sollte, ob wir in einer idealen Welt leben oder ob sich die Welt in den vergangenen 90 Jahren verbessert hat, bin ich in einer ziemlich pessimistischen Stimmung.

Sie glauben nicht an Frieden im Nahen Osten?
Nach dem Abkommen von Oslo 1993 war ich das erste Mal der Überzeugung, nicht nur ich, sondern auch meine Enkel würden Frieden im Nahen Osten erleben. Das ist vorbei! Ich muss mir also sehr große Mühe geben, aber ich muss an Frieden glauben. Wenn ich jetzt sagen würde ich glaube nicht daran, wäre das so hoffnungslos, dass ich morgen gar nicht aus dem Bett käme. Man weiß nicht wie, man weiß nicht wann, aber man darf in diesem Punkt nicht realistisch sein, sondern muss optimistisch bleiben. Im Moment sieht es nicht gut aus aber, es werden auch wieder bessere Zeiten kommen.

Können Sie mit Ihren Erfahrungen überhaupt noch an das Gute im Menschen glauben?
Ich muss! Gerade bei uns im Lande sieht man auch die guten Seiten der Menschen. Ich habe zum Glück noch viel Kontakt mit Menschen und vor allem Jugendlichen aus Israel und Deutschland. Da ist es nicht schwer optimistisch zu bleiben.

Warum ist Ihnen die Verständigung zwischen Israelis und Deutschen so wichtig?
Um es kurz zu sagen: Weil ich ein Realpolitiker bin. Weil ich glaube, dass die Vergangenheit zwischen Deutschland und Israel das verlangt und weil ich glaube, dass die Zukunft es verlangt, dass die Beziehungen der beiden Länder so positiv wie möglich sind. Man muss dafür sorgen, dass sich so etwas wie in der Vergangenheit nicht wiederholt, und die Kräfte unterstützen, die sich für eine Normalisierung einsetzen.

Aber viele Juden - auch aus Deutschland - haben nach dem Holocaust entschieden, mit diesem Land nichts mehr zu tun haben zu wollen.
Ich war derselben Einstellung. Meine Kinder sprechen - leider - gar kein deutsch. Meine Frau und ich hatten uns entschlossen, mit den Kindern kein deutsch zu reden und auch sonst mit Deutschland nichts zu tun zu haben. Aber durch die Arbeit hatte ich doch Kontakt mit Deutschen, alles hat sich in eine andere Richtung entwickelt. Ich habe aber mitbekommen, dass sich die Situation und die Menschen in Deutschland ändern und dass es Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt. Auch da hat es sozusagen eine Wende gegeben.

Wie empfinden Sie die Beziehungen heute?
Natürlich nicht einfach. Zum einen durch antisemitische Stimmungen in Deutschland, zum anderen durch die politische Situation in Israel. Natürlich gibt es hier auch noch diejenigen, über die wir gerade gesprochen haben, die nichts mit Deutschland zu tun haben wollen. Aber es gibt auch einen Teil der israelischen Jugend, der Deutschland und besonders Berlin als ein Mekka ansieht. Es gibt also verschiedene Strömungen, die man verstehen muss. Das ist nicht einfach. Aber was ist schon einfach im Leben?

Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?
Ich schaue lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit. Ich glaube meine Generation hat eigentlich mehr als genug an negativen Ereignissen mitbekommen. Ich bin nicht so selbstzufrieden, mir jetzt auf den Rücken zu klopfen und zu sagen in dieser oder jener Situation habe ich das Beste getan, was ich tun konnte. Ich kann nur sagen, ich habe es versucht. Aber die Welt hat sich durch meine Anstrengungen nicht sehr geändert.

Haben Sie noch Träume?
Ich bin stolz und zufrieden, dass alle meine Kinder und Enkel hier im Lande leben. Und ich hoffe, dass es kein Fehler war sie zu unterstützen in Israel zu bleiben. Ich hoffe, dass sie ein ordentliches Leben in Israel haben werden.