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Industrie-Schwäche Im Osten fehlt das Kapital

Den Abstand zum Westen hat die ostdeutsche Industrie verkürzt. Doch es
gibt Rückstände in entscheidenden Bereichen. Die Innovationen kommen
nicht aus dem Osten. Und große, kapitalkräftige Unternehmen sind selten.

25.06.2014, 01:15

Magdeburg/Berlin l Im Sommer 1990, kurz vor dem offiziellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, zeichnete Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) sein neues, buntes Deutschland-Bild. Er sagte: "Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt."

An Blumen mangelte es in den folgenden Jahren wohl kaum. Wohl aber an Arbeit. Nach der Wende brach die ostdeutsche Wirtschaft zusammen. Unternehmen wurden zerschlagen, billig verschleudert oder geschlossen. Viele Menschen zog es in den Westen. Aus den mehr als drei Millionen Arbeitsplätzen in der Industrie vor der Wende wurden etwa eine Million im Jahr 1999. Noch heute leidet die ostdeutsche Industrie unter den Nachwirkungen der Deutschen Einheit. Obwohl deutlich aufgeholt wurde, wie eine Studie bescheinigt.

"Die historischen Umbrüche sind bis in die Gegenwart sichtbar", sagte die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), am Dienstag bei der Vorlage eines Atlas zur Industrialisierung der ostdeutschen Bundesländer. Die Studie erstellte die Universität Rostock im Auftrag der Bundesregierung. Sie zeigt die Stärken der Aufbauleistung Ostdeutschlands: Seit 1995 ist die ostdeutsche Industrie real mit beachtlichen fünf Prozent pro Jahr gewachsen. Und doch ist die ostdeutsche Industrie gemessen an ihrer westdeutschen Schwester bis heute relativ klein und kapitalschwach.

Aufholerfolge und prekäre strukturelle Schwächen

Vor zwei Jahren machte die industrielle Leistung der neuen Bundesländer gerade einmal 8,9 Prozent der industriellen Gesamtleistung Deutschlands aus, mit Berlin waren es immerhin 10,7 Prozent. Die ostdeutsche Industrie zeigt ein vielschichtiges Bild. Dicht nebeneinander stehen beeindruckende Aufholerfolge und zugleich prekäre strukturelle Schwächen. Laut Studie fehlen dem industriellen Mittelstand weitgehend die regionalen Wirtschaftskreisläufe, die andere Regionen in Deutschland und Europa auszeichnen und deren industrielle Stärke ausmachen. Die Beziehungen zum Ausland und die Eingliederung in die dortigen Wertschöpfungsketten stünden noch am Anfang.

Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Hartmut Möllring (CDU) sieht sich mit seiner Wirtschaftspolitik dennoch auf dem richtigen Weg. "Unsere zumeist kleinen und mittleren Unternehmen müssen weiter wachsen, um noch mehr Forschung und Entwicklung betreiben zu können und in noch größerer Zahl den Sprung auf Zukunftsmärkte im Ausland zu schaffen", sagte er der Volksstimme.

Das Erbe der Transformationspolitik nach der Wiedervereinigung und der Privatisierung ist die große Herausforderung beim industriellen Wachstum. Der ostdeutsche Industriesektor ist durch kleine und wenige mittelgroße Betriebe geprägt. Große, kapitalstarke Unternehmen und Konzernzentralen aber fehlen nahezu vollständig. Der Dax ist in Ostdeutschland gewissermaßen ausgestorben. Bis heute hat kein einziger Dax-Konzern seinen Sitz in den neuen Ländern. "Die Befunde sind korrekt", sagte der Geschäftsführer der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Sachsen-Anhalt, Matthias Menger. Das sei aber nicht von heute auf morgen zu ändern. "Ein Dax-Unternehmen werden sie nicht durch Wirtschaftsförderung dazu bringen, seinen Konzernsitz zu verlegen. Der Osten leidet noch immer unter dem Fortzug großer Konzerne im Zuge der Teilung. Großunternehmen würden das Wachstum beschleunigen, etwa weil sie höhere Löhne zahlen können, mehr in Forschung und Entwicklung stecken und für ihre Produktion wiederum Zulieferer und Dienstleister benötigen.

Dax-Konzerne sorgen für Wertschöpfung

Vor allem in Sachsen und Thüringen hätten sich aber lebensfähige und weltmarkt-orientierte Wachstumszentren entwickelt, sagte der Autor der Industrie-Studie, der Rostocker Wirtschaftsprofessor Gerald Braun. Sachsen etwa glänze mit einer Reihe von Weltmarktführern im Maschinenbau. Sachsen-Anhalt punktet mit der Chemie- und Pharma-branche. Mit Investitionen ist nach der Wende modernisiert worden. Doch zuletzt sei es nur noch um Erhaltung des Zustands gegangen, so Torsten Kiesner, Sprecher des Landesverbandes Nordost der Chemischen Industrie. "Neuanlagen, für die es gute Infrastrukturvoraussetzungen gäbe, werden kaum noch gebaut. Dafür steigt die Zahl der Investitionen im Ausland", sagte Kiesner.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Solarindustrie. Doch auch dort sind die Prognosen düster. "In den letzten Jahren gab es einen harten Verdrängungswettbewerb und überzogene Fördereinschnitte", sagte Carsten Körnig, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Solarwirtschaft. Besser ist die Situation im Ernährungsgewerbe: Mehr als 20000 Beschäftigte arbeiten in der Nahrungs- und Genussmittelherstellung, meist in kleinen und mittleren Unternehmen. Und auch der Maschinenbau ist mit 10000 Beschäftigten eine der tragenden Industrie-Säulen Sachsen-Anhalts.

Der Aufbau der ostdeutschen Industrie wird weiter vorangetrieben. "Wir müssen gezielt dahin gehen, wo schon Wachstumskerne sind", sagte die Ostbeauftragte Gleicke zur künftigen Förderpolitik. "Die Gießkannenzeit ist vorbei." So müssten Firmen leichter Kapital bekommen, die wenige Jahre alt sind und den nächsten Wachstumsschritt jetzt vor sich hätten.

In Sachsen-Anhalt werde eine gezielte Förderung benötigt, die Entwicklungen innovativer Produkte unterstütze. Zudem müsse die Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gestärkt werden, teilte die Industrie- und Handelskammer Magdeburg mit. "Damit wird die Wertschöpfung im Land erhöht und der Standort für neue Ansiedlungen attraktiver gemacht", sagte Geschäftsführer Sven Horn. Eine kühne Hoffnung. Doch nur dann gehört das Dax-Unternehmen in Ostdeutschland nicht mehr zu den ausgestorbenen Arten.