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Neues Forum "Den Löwen am Schwanz ziehen"

Vor 25 Jahren gründete sich das Neue Forum in der DDR - die erste landesweite Oppositionsbewegung außerhalb der Kirche. Am 19. September 1989 stellte das Neue Forum den Antrag auf Zulassung. Zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufes gehörte Hans-Jochen Tschiche, damals Pfarrer in Samswegen.

Von Silke Janko 19.09.2014, 03:03

Satuelle l Mit knapp 85 Jahren kann der Mitbegründer des Neuen Forums von der Politik immer noch nicht lassen: Bei den Kommunalwahlen im Mai kandidierte Hans-Jochen Tschiche für das Kreisparlament des Bördekreises: Eher in der Hoffnung, dass es nicht klappen würde, ließ er sich von seinen Parteifreunden zur Kandidatur überreden. Doch da hatte er die Rechnung ohne den Wähler gemacht - Tschiche ist gewählt und nun Fraktionschef der Mini-Fraktion zweier Grüner und eines Piraten und sagt amüsiert über sich selbst: "Vermutlich bin ich der älteste Fraktionschef in einem Kreistag in Deutschland."

Der frühere Direktor der Evangelischen Akademie in Magdeburg, einer Bildungsstätte der Kirchenprovinz Sachsen, hat vor 25 Jahren Geschichte geschrieben. Er gehört zu den 30 Erstunterzeichnern des Neuen Forums - das zur ersten landesweiten Oppositionsbewegung außerhalb der Kirche in der DDR werden sollte.

Am 9. September 1989 treffen sich Oppositionelle im Haus von Katja Havemann, der Witwe des Regimekritikers Robert Havemann, in Grünheide bei Berlin. Neben Tschiche und anderen sind dabei die Künstlerin Bärbel Bohley, die Hallenser Katrin und Frank Eigenfeld, der Jurist Rolf Henrich, der Physiker Sebastian Pflugbeil und die Stendaler Atomkraftgegnerin Erika Drees. In der Nacht zum 10. September reden sie sich die Köpfe heiß und veröffentlichen am nächsten Morgen den Aufruf "Aufbruch 89 - Neues Forum".

Tschiche kam direkt aus der Schweiz von einem Treffen der evangelischen Akademie-Direktoren. Seine Anwesenheit in Grünheide geht vor allem auf seine Kontakte zu der 2009 gestorbenen Stendalerin Erika Drees zurück, die mit der vor Jahresfrist ausgebürgerten und zurückgekehrten Malerin Bärbel Bohley in Verbindung steht. "Im Sommer 1989 wollte ich unbedingt etwas gründen. Erika Drees bat mich abzuwarten", erinnert sich Tschiche.

Was die Erstunterzeichner zu Papier bringen, ist für den Staat die blanke Provokation. "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung", heißt es im ersten Absatz des Aufrufes. Es ist nichts weniger als der Aufruf zum demokratischen Dialog, zu Reformen und zur Teilnahme breiter Schichten an einem überfälligen gesellschaftlichen Reformprozess.

Zu dieser Zeit füllen sich die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest mit DDR-Bürgern, die ihre Ausreise in den Westen erzwingen wollen. "Uns ging es damals um eine kritische Begleitung der aktuellen Politik", blickt Tschiche zurück. Es sei um die "Idee des Sozialismus mit menschlichem Antlitz" gegangen. "Die DDR abschaffen wollte ich nicht."

Tschiche vervielfältigt den Aufruf mit Gleichgesinnten und sammelt Unterschriften. Mehr als 200000 Menschen von der Ostsee bis zum Fichtelgebirge unterschreiben den Aufruf in den nächsten Wochen, ihren Beitritt zum Neuen Forum erklären rund 10000.

Die Gründungsmitglieder stellen am 19. September 1989 beim Ministerium des Innern und in fast allen Bezirksbehörden Anträge auf Zulassung - der SED-Staat lehnt sie erwartungsgemäß ab. "Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der DDR und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal", heißt es in einer am 21. September verbreiteten Mitteilung des Ministers des Innern.

Der Versuch, die Oppositionsbewegung zu verbieten, scheitert. Das Gegenteil passiert. In Magdeburg und vielen Städten Sachsen-Anhalts formieren sich Demonstrationen, anfangs mit wenigen Teilnehmern, im Oktober 1989 sind es Tausende, in Magdeburg gar Zehntausende. Eine der Hauptforderungen neben Reisefreiheit, freien Wahlen und Pressefreiheit ist die Zulassung des Neuen Forums. Tschiche eilt in jenen Wochen des Herbst 1989 von Demonstration zu Demonstration. Der 59-jährige Pfarrer mit Stoppelbart, wildem Haar und Pullover redet zu den Menschen, rüttelt sie wach. Die Leute folgen ihm, dass es ihm fast unheimlich wird, wie er später zugibt.

Tschiche ist der Staatssicherheit nicht erst seit Gründung des Neuen Forums bekannt. Die Evangelische Akademie, der er 15 Jahre lang bis zum Jahr 1990 vorsteht, bezeichnet die Stasi intern als "Boykottnest" - ein Hort, in dem sich Widerstand organisiert. Tschiche zählt die Stasi vor allem wegen seines Engagements in der innerkirchlichen Friedensarbeit zu jenen 60 Personen in der DDR, die - so eine Akte vom Juni 1989 - den "harten Kern... fanatischer, von Sendungsbewusstsein, persönlichem Geltungsdrang und politischer Profilierungssucht getriebener, vielfach unbelehrbarer Feinde des Sozialismus" bilden.

Plötzlich sitzt dieser Staatsfeind bei den Größen von SED und Staat im Büro - zum freundlichen Gespräch beim Kaffee. "Ich war damals der wichtigste Mann im Bezirk Magdeburg, ich wusste es nur nicht." Es ist Ende Oktober 1989, als der damalige SED-Bezirkschef Werner Eberlein Tschiche und eine Mitstreiterin zum Kaffee bittet. Eberlein verlangt von dem Pfarrer, dass die Demonstrationen aufhören sollen und er insbesondere die für den 4. November 1989 angemeldete Demonstration auf dem Dom- platz in Magdeburg absagt. "Ich kann auch 1000 Kommunisten auf die Straße schicken", amüsiert sich Tschiche noch heute über Eberleins leere Drohung. An jenem 4.November 1989, einem Sonnabend, stehen mehr als 30000 Menschen auf dem Domplatz und pfeifen die Vertreter von Staat und SED, unter anderem auch SED-Bezirkschef Eberlein, aus.

Siegfried Grünwald, der damalige Chef des Rates des Bezirkes, will von Tschiche wissen, was er denn tun solle. "Ihr habt den Karren in den Dreck gefahren und ihr müsst ihn wieder herausholen. Wir werden das kritisch begleiten", ist seine Antwort.

Der Druck der Straße führt dazu, dass die DDR-Behörden das neue Forum am 8. November anerkennen. Am 9. November fällt die Mauer. Tschiche redet an jenem Donnerstag auf einer Demonstration in Schönebeck. Auf dem Rückweg hört er im Autoradio, dass die Grenzen offen sind und sagt: "Das war`s."

Tschiche wird Recht behalten. Auf den Demonstrationen werden die Stimmen derer lauter, die die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten fordern. "Wir hatten irrtümlich geglaubt, die Bevölkerung denkt wie wir. Sie war aber abends vor dem Fernseher mental längst im Westen." Mit der Wiedervereinigung habe sie die Hoffnung auf ein zweites Wirtschaftswunder, dieses Mal für den Osten Deutschlands, verbunden. "Wir waren die Türöffner, dahinter haben aber die anderen Politik gemacht."

Nach dem Mauerfall schwindet der Einfluss des Neuen Forums. Tschiche sitzt als Vertreter noch am Runden Tisch des Bezirkes Magdeburg. "Es war der Versuch der alten Machthaber und der neuen Kräfte, das Chaos zu verhindern." Ratschef Grünwald hatte damals erklärt: "Wir sind nur noch Verwaltung."

Das Neue Forum ist indes im internen Streit - ob es eine Partei werden soll - auf dem Weg zur Bedeutungslosigkeit. Bei den ersten demokratischen Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 tritt es mit zwei weiteren Bürgervereinigungen, der "Initiative für Frieden und Menschenrechte" und "Demokratie Jetzt" als "Bündnis 90" an und holt gerade mal 2,9 Prozent der Stimmen.

Die fehlende Fünf-Prozent-Hürde rettet die Bürgerrechtler vor dem totalen Absturz. Mit zwölf Sitzen schaffen sie es in die Volkskammer. Auch Tschiche erringt ein Mandat und sitzt nach der Wiedervereinigung für wenige Wochen im Bundestag.

Bei den Wahlen zum Landtag Sachsen-Anhalt zieht das mit den Grünen vereinigte Bündnis 90 ins Parlament ein. Tschiche wird Fraktionschef und moderiert ab 1994 das Magdeburger Modell, die von der PDS tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung unter dem damaligen SPD-Ministerpräsidenten Reinhard Höppner.

Inzwischen ist Tschiche seit fast 16 Jahren aus dem Landtag ausgeschieden und schaut mit fast 85 Jahren mit einer gewissen Gelassenheit und Zufriedenheit zurück. "Es liegt wohl in meiner Natur, den Löwen am Schwanz zu ziehen. Mein Glück war: Ich hatte nie Angst."