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Rechtsmediziner begutachten Misshandlungsopfer "Es ist erschütternd, wie viele Kinder heute noch dahinvegetieren"

Von Matthias Fricke 21.10.2014, 07:44

Magdeburg l Rechtsmedizinerin Dr. Katja Jachau packt ihren Rucksack ein. Mit Kamera, Lineal und Diktiergerät fährt sie zum Einsatz, um ein Kind in einem Krankenhaus zu untersuchen. Die Ärzte dort haben einen furchtbaren Verdacht. Ein Kleinkind ist mit Verletzungen aufgetaucht, die sich nicht mit den Schilderungen der Eltern erklären lassen.

Mit zwei weiteren Kollegen untersucht die 44-Jährige jährlich im gesamten mittleren und nördlichen Sachsen-Anhalt mehr als hundert Opfer häuslicher Gewalt, fast die Hälfte davon sind Kinder. Die meisten von ihnen sind zwischen acht Wochen und vier Jahre alt. Sie wurden verprügelt, sexuell missbraucht oder stark vernachlässigt. "Es ist erschütternd, wie viele Kinder heutzutage noch dahinvegetieren", sagt sie. Völlig verdreckte Haare, verschmutzte Kleidung oder seit mehreren Tagen nicht gewechselte Windeln sind für sie ein klares Alarmsignal für Vernachlässigungen.

Für Misshandlungen sprechen hingegen stark verängstigte Reaktionen oder ein sogenanntes Marionettenverhalten. Diese Kinder lassen alles mit sich machen, weil sie sich bereits eine Art emotionales Schutzschild aufgebaut haben.

Klarer sind eindeutige Wunden, wie vor einiger Zeit ein mit Bisswunden eines Menschen übersäter Junge. Der Vater meinte später, dass er das Kind nur beißen wollte, weil er es so lieb habe. Dabei, so sind sich die Experten sicher, war es eine sexuelle Übersprungshandlung. Auch solche Gewalttaten innerhalb der Familie muss sie häufig begutachten. "Oft erzählen die Eltern eine zunächst völlig normale Geschichte, zum Beispiel sollte einem Kind angeblich das Bücherregal auf den Rücken gefallen sein. Aber gleich dreimal? Da fragt man sich, was das für eine Wohnung ist", sagt Jachau.

Die meisten Kinder im Säuglingsalter können sich ohnehin nicht artikulieren. Jachau: "Hier können wir nur mit unseren Befunden ergründen, was eigentlich vorgefallen ist."

Die Untersuchungen in der Kinder-Opferambulanz der Rechtsmedizin hat sich in den vergangenen sechs Jahren von 21 auf 46 zwar mehr als verdoppelt, die Zahl der totgeschüttelten Kinder sei aber weitgehend konstant geblieben. Kollegen, Erzieher und Nachbarn reagieren nun häufiger und eher als früher. Siegfried Hutsch, Referent für Jugendhilfe beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Sachsen-Anhalt, sieht es ähnlich: "Wir hatten vorher nur ein hohes Dunkelfeld. Jetzt stellen wir auch ein verbessertes Meldeverhalten fest. Viele freie Träger arbeiten auch schon eng mit der Rechtsmedizin zusammen."

In der Zeit zwischen den Jahren 2007 und 2013 sind 442 Mitarbeiter der Jugendämter und Schulsozialarbeiter speziell zum Thema Erkennen von Kindesmisshandlungen geschult worden. Das betrifft auch rund tausend Erzieher in Kindertagesstätten, die eine Fortbildung für Kinderschutzfachkräfte im gleichen Zeitraum besucht haben.