1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. "Ich dachte, ich habe mich verhört"

EIL

Zeitzeugen in Marienborn "Ich dachte, ich habe mich verhört"

Der 9. November 89 ist so ein Tag, an den fast jeder Erinnerungen hegt. Annemarie Reffert zum Beispiel, die als Erste in Marienborn die Grenze überquerte. Es gibt aber auch Ausnahmen: Niedersachsens Regierungschef Weil. Er bekam die Nachricht vom Mauerfall erst am 10. morgens unter der Dusche.

10.11.2014, 01:23

Marienborn l Gemeinsam mit Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff und mehreren Zeitzeugen erinnerte Stephan Weil am Sonntag in der Gedenkstätte Marienborn an den Fall der Mauer. Bei einer Podiumsdiskussion, moderiert von Volksstimme-Chefredakteur Alois Kösters, gestand Weil offenherzig, dass er sich nicht mehr erinnern kann, was er am 9. November gemacht hat. Wohl auch, weil ihn die Nachricht vom Fall der Mauer erst später erreichte. "Ich habe davon erst am Morgen des 10. unter der Dusche erfahren", sagte Weil. Seine erste gesamtdeutsche Erfahrung ließ aber auch in Hannover nicht lange auf sich warten.

Als er an dem Morgen Brötchen holen wollte, stand bereits ein Auto aus Magdeburg vor seiner Haustür, die Insassen schliefen noch. "Ich habe ihnen einen Zettel ans Auto geklebt, dass sie bei uns duschen und frühstücken könnten. Eine halbe Stunde später klingelte es dann bei uns an der Tür - es war unser erstes gesamtdeutsches Frühstück."

Einige Stunden früher, in der Nacht vom 9. auf den 10., hat Annemarie Reffert ein ganz persönliches Abenteuer durchgestanden, wie sie am Sonntag berichtete. Reffert wollte einfach nicht glauben, was SED-Funktionär Günter Schabowski in den Nachrichten über die neue Reisefreiheit erzählte. "Ich dachte, ich habe mich verhört."

Gemeinsam mit ihrer damals 15-jährigen Tochter Juliane setzte sie sich kurzerhand selbst ins Auto. "Wir wollten testen, ob die Grenze wirklich offen ist." Auf der Autobahn Richtung Helmstedt passierte sie einen Kontrollposten nach dem anderen. "Die hatten keine klaren Befehle bekommen und haben uns einfach durchgelassen."

So war das dann auch am Grenzübergang: Freie Fahrt in den Westen. Die beiden Frauen waren die ersten, die ohne Probleme über Marienborn ausreisten. "Wir sind dann nachts durch Helmstedt gefahren", erinnert sich Annemarie Reffert. Weil die Stadt aber um die Zeit "wie ausgestorben" war, seien sie recht schnell wieder umgekehrt. Tochter Juliane beschäftigte auf der Rückfahrt die Frage, ob sie denn auch wieder in die DDR hineinkommen - waren sie doch zuvor "ausgereist". Mutter Annemarie hatte aber keine Zweifel: "Mach dir mal keine Sorgen, die sind froh über jeden, der wiederkommt", sagte sie.

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff erlebte den Fall der Mauer in Wittenberg. "Es war damals ein großer Druck auf dem Kessel", sagte Haseloff mit Blick auf die Reisebeschränkungen. Er selbst habe über die Ausreise nachgedacht, habe die Gedanken aber mit der Grenzöffnung verworfen.

Jetzt, 25 Jahre später, habe sich vieles verändert, sagte Haseloff. "Sachsen-Anhalt hat einen enormen Transformationsprozess erfolgreich hinter sich gebracht - auch das ist ein kleines Wunder."

Vom 11. November bis 11. Januar 2015 ist in der Gedenkstätte Marienborn eine deutsch-ungarische Ausstellung zum Thema "Der erste Riss im Eisernen Vorhang. Das Paneuropäische Picknick am 19.8.1989 in Sopron (Ungarn)" zu sehen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10 -17 Uhr.