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Innenminister Stahlknecht im Interview "Politiker sind kein Freiwild"

24.03.2015, 01:26

Protestzüge sollen künfttig auch um Wohnungen von hauptamtlichen Politikern einen Bogen machen. Bislang sind nur Ehrenamtliche geschützt. Mit Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) sprach Volksstimme-Reporter Jens Schmidt.

Volksstimme: Herr Minister, mit ihrem jüngsten Erlass schützen sie die Wohnungen ehrenamtlicher Politiker. Wurde er schon mal angewandt?
Holger Stahlknecht: Ja, vor zwei Wochen in Tröglitz. Der Protestzug wollte am Haus des stellvertretenden Ortsbürgermeisters vorbeiziehen, nachdem Ortsbürgermeister Markus Nierth zurückgetreten war. Der Landkreis hat auf Basis des Erlasses die Demo auf Nebenstraßen gelenkt. Die Versammlungsfreiheit ist zwar ein hohes Gut und grundgesetzlich geschützt. Einen gleichrangigen Schutz genießt aber auch das Persönlichkeitsrecht. Zwischen beiden Schutzgütern müssen wir abwägen. Es kann nicht sein, dass ehrenamtlich Tätige, dazu zählen Bürgermeister, Gemeinderäte und Kreistagsmitglieder und ihre Familien psychisch drangsaliert werden. Auch eine schweigende vorbeiziehende Menschenmenge kann solch einen Druck aufbauen.

Warum gilt der Erlass nicht auch für hauptamtliche Politiker?
Die Rechtsprechung sagt: Berufspolitiker haben sich das Amt bewusst ausgesucht und damit die Öffentlichkeit gesucht. So müssen Berufspolitiker daher in Kauf nehmen, dass etwa ein Protestzug schweigend in der Nähe ihres Hauses vorbeizieht. Das kann nach meiner Auffassung bei Ehrenamtlichen nicht gelten, denn bei diesen wiegt das Persönlichkeitsrecht zumindest gleich mit dem Recht auf Demonstrationsfreiheit. Im Übrigen halte ich die Rechtsprechung für nicht nachvollziehbar. Das sage ich als Bürger, Jurist und Politiker. Auch ein Berufspolitiker und seine Familie dürfen nicht zum Freiwild werden.

Stadt- und Gemeinderäte wohnen über die ganze Gemeinde verteilt. Sind Protestzüge dann überhaupt noch möglich?
Wer eine kritische Botschaft überbringen will, hat genügend Möglichkeiten: vor dem Gemeindeamt, dem Landratsamt, auf dem Marktplatz, vor Ministerien oder dem Landtag. Aber das Privathaus sollte meiner Meinung nach tabu sein.

Da Sie die Rechtsprechung kritisieren: Wollen Sie das Versammlungsgesetz ändern?
Das würde nichts bringen. Wenn wir in unser Gesetz schreiben würden, dass pauschal alle Demonstrationen vor Politiker-Privathäusern verboten sind, dann laufen wir Gefahr, dass so ein Gesetz im Hinblick auf die derzeitige Rechtsprechung als grundgesetzwidrig scheitert. Aber ich will zusammen mit den Landräten einen anderen Weg gehen: Wir wollen bei einem konkreten Fall - also durch eine Einzelfallentscheidung - wenn künftig einmal eine Demonstration vor einem Privathaus eines hauptamtlichen Politikers stattfinden soll, diese Demonstration dort untersagen und den Protestzug umleiten. Ich gehe davon aus, dass ein Gericht dann anerkennt, dass eine Demonstration vor dem Amtssitz der Politiker auch zur Meinungsäußerung ausreichend ist und innerhalb einer Güterabwägung die grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechte der Politiker gewahrt bleiben. Wir werden auf drei Regionalkonferenzen zeitnah mit Kommunalpolitikern, Verfassungsschützern und Mitarbeitern der Landkreisbehörden die diffizile Rechtslage erörtern.

In diesem Monat gab es zwei Morddrohungen gegen Bürgermeister: Lutz Trümper aus Magdeburg und Markus Nierth aus Tröglitz. Erleben wir eine Radikalisierung?
Von einer Radikalisierung würde ich noch nicht reden. Aber die Schärfe der Auseinandersetzung nimmt zu - bei Rechts- wie Linksextremen. Allgemein beobachten wir einen Werteverfall im Umgang mit Politikern, sei es bei Haupt- oder Ehrenamtlichen. Beispielsweise seien nur sogenannte "Shit-Storms" mit beleidigendem Charakter genannt.