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Ruf nach Zentralabitur Abitur - Die unvergleichliche Prüfung

Von diesem Stück Papier hängt viel ab im Leben. Doch ob ein Schüler die Note erreicht, die er für sein Traum-Studienfach braucht, oder ob er ganz ohne Abitur dasteht - das hängt auch davon ab, in welchem Bundesland er wohnt.

Von Hagen Eichler 24.03.2015, 02:27

Magdeburg l Wer das Rentenalter erreicht, ist gut beraten, sich ein schönes Hobby zu suchen. Eines, das den Geist anregt und Freude macht. Man kann sich fragen, ob der ehemalige Mathelehrer Günter Germann sein Steckenpferd gut gewählt hat. Es ist eine Beschäftigung, die ihn aufregt und regelmäßig sehr schlechte Laune macht. Aber Germann geht es ums Prinzip: Er kämpft gegen eine Ungerechtigkeit. Seit langem wühlt er sich durch die Regeln, die darüber entscheiden, wie in Deutschland Abiturnoten zustande kommen. Er ist überzeugt: "Das ist wie Lotto. Mit Schülerleistung hat das wenig zu tun."

Es geht ihm nicht um die Frage, wie streng Lehrer ihre Schüler bewerten und was ein Schüler leisten muss, um eine gute Note zu erhalten. Germann stört sich an etwas anderem: Selbst wenn identische Noten im Zeugnis stehen, haben sie sehr unterschiedliche Folgen für das Abitur. Denn jedes Bundesland rechnet sie anders in die Endnote ein.

Die Unterschiede können gewaltig sein, wie das Beispiel eines fiktiven Gymnasiasten zeigt. Germann nennt ihn Paul. Der Junge hat ohne Zweifel Begabungen: In Mathematik und Deutsch hat er Spitzen-Noten, in anderen gute. In Sport freilich sind die Noten schwach, auch in Chemie und Musik sieht es nicht gut aus.

Durch einen Schlussspurt und gute Noten in den Abiturprüfungen kann Paul dennoch ein gutes Abitur schaffen - jedenfalls, wenn er den richtigen Wohnort hat. In sechs Ländern stünde sogar eine 1 vor dem Komma. In Sachsen-Anhalt hingegen scheitert Paul. Er wird nicht einmal zu den Abiturprüfungen zugelassen.

Der Vergleich zeigt: Die Anforderungen fürs Abitur sind in Sachsen-Anhalt besonders hoch. In zwei Stufen hat das Kultusministerium die Bedingungen verschärft. 2007 wurde die Zahl der Leistungskurse von zwei auf sechs angehoben. Seit 2013 gilt, dass jede einzelne Zeugnisnote der letzten zwei Schuljahre ins Abitur eingeht. Das sind 44 Halbjahresleistungen. In Ländern mit durchaus anerkanntem Abitur, etwa Bayern, Thüringen, Baden-Württemberg, müssen Abiturienten lediglich 40 Leistungen einbringen, anderswo reichen sogar 32. Die Schüler können so einzelne schlechte Noten aus dem Abiturzeugnis heraushalten.

Besonders streng ist Sachsen-Anhalt auch bei sogenannten Minderleistungen, also den Halbjahresnoten, die unter fünf Notenpunkten liegen. Diese Regelung ist es, die Paul zum Verhängnis wird. 14 Bundesländer würden die schlechten Noten in einigen Fächern tolerieren. In Sachsen-Anhalt (ebenso wie in Brandenburg) führen sie zum Schulabgang ohne Abitur.

Für viele Oberstufenschüler haben die unterschiedlichen Abi-Regeln nur geringe Auswirkungen. Wer in allen Fächern solide auf Zwei steht, bekäme in jedem Land fast die gleiche Abi-Note. Wer allerdings in einigen Fächern sehr stark ist und in anderen sehr schwach, hat in Sachsen-Anhalt ziemlich schlechte Karten.

Lange Zeit war der einstige Mathelehrer Germann der einzige, der hinter dem Scheitern vieler Sachsen-Anhalter Schüler ein System erkannte. Wer besorgt sich schon die Oberstufenverordnungen von 16 Bundesländern, legt sie nebeneinander und rechnet die Folgen für verschiedene Zeugnisnoten durch?

Mittlerweile sehen aber auch Eltern genauer hin, was ihren Kindern abverlangt wird. In Wernigerode schart eine Aktionsgruppe "Faires Abi" Unterstützer um sich. "Früher habe ich keine Ahnung gehabt, dass die Länder das so unterschiedlich regeln", gibt Katja Franz zu, eine der Aktiven. Die zweifache Mutter hat eine fünfzehnjährige Tochter am Gymnasium. "Sie kämpft sich da durch", sagt Franz, "aber es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass sie es anderswo viel leichter hätte."

Ihre Mitstreiter betonen, dass es ihnen nicht um eine Verwässerung des Abiturs geht. "Wir wollen nur, dass sich Sachsen-Anhalt am Bundesdurchschnitt orientiert", beteuert Winfried Borchert, Co-Sprecher der Gruppe.

"Ich bin für ein anstrengendes Abitur, kein weichgespültes."
Philologen-Chef Jürgen Mannke

"Wenn die Schüler in ganz Deutschland 44 Kurse einbringen müssten, hätte ich kein Problem damit", sagt auch die Hallenserin Anke Triller, die einst als Mitglied des Landeselternrates für Reformen kämpfte. "So, wie es ist, ist es einfach unfair."

Der Philologenverband hingegen, die Vertretung der Gymnasiallehrer, will an den geltenden Regeln festhalten. Landesvorsitzender Jürgen Mannke plädiert offen für ein anstrengendes Abitur. "Das Ziel ist die höchste Allgemeinbildung. Auch die Eltern wollen kein weichgespültes Abitur, sie wollen, dass ihr Kind später das Studium schafft." Deshalb ist für Mannke unumgänglich, dass tatsächlich alle 44 Halbjahresleistungen in die Abiturnote eingehen. "Wir wollen nicht, dass sich die Schüler in der zwölften Klasse in bestimmten Fächern zurücklehnen und am Handy spielen, weil sie die Note gar nicht brauchen."

Ungerecht findet Mannke die Regeln nicht, denn Sachsen-Anhalts Schüler hätten auch Erleichterungen. So müssen sie erst nach der elften Klasse entscheiden, in welchem Fach sie sich der Prüfung auf erhöhtem Niveau stellen wollen. Auch seien die Prüfungsaufgaben "maßvoll", und eine der Prüfungen könne jeder durch eine über zwei Jahre geschriebene Arbeit zu einem selbstgewählten Thema ersetzen.

Im vergangenen Jahr hat das Kultusministerium die Schraube dennoch ein wenig zurückgedreht. Anlass war der im Abitur gescheiterte Schüler Dennis - ebenfalls ein fiktiver Fall, dessen Zeugnis sich der notorische Abi-Kritiker Germann ausgedacht hat. Dennis hätte mit seinem Zeugnis in Bremen ein blendendes 1,5er Abitur erhalten. In Sachsen-Anhalt aber wäre er ohne Hochschulzugangsberechtigung abgegangen.

"Konstruiert" nannte das Kultusministerium das Schicksal von Dennis - erlaubt aber seither Abiturienten, die Kurse aus zwei Fächern doppelt gewichten zu lassen. Das Ergebnis der Korrektur: Dennis bekäme nunmehr auch in Sachsen-Anhalt ein Zeugnis. Paul aber, dem neuen Fall von Germann, hilft auch die Doppeltgewichtung nicht.

Vielen anderen auch nicht. Beim Anteil der Abiturienten ist Sachsen-Anhalt das Schlusslicht Deutschlands. Im vergangenen Jahr haben lediglich 29,9 Prozent des Jahrgangs die allgemeine Hochschulreife erreicht. Die Aktionsgruppe "Faires Abi" ist überzeugt, dass das auch an den hohen Hürden liegt.

"Diese Frage muss man tatsächlich stellen", sagt Armin Willingmann, Rektor der Hochschule Harz. "So, wie das System ist, kann es zu einer Benachteiligung von Landeskindern führen." Willingmann verweist darauf, dass in den mitteldeutschen Nachbarländern deutlich mehr Schüler das Abitur packen.

Und selbst wer es in Sachsen-Anhalt schafft: Bei der Konkurrenz um einen Studienplatz wird er keinen Bonus bekommen, weil sein Abitur besonders schwierig war. "Wir als Hochschule können die Abiturnote nur so nehmen, wie sie auf dem Zeugnis steht", sagt der Hochschul-Chef. "Sehr respektabel" findet er daher, dass sich zu dem Thema jetzt Eltern einmischen.

Die haben auf ihrer Facebook-Seite "Faires Abi" die Ungleichbehandlung in langen Tabellen haarklein aufgelistet. Die Initiative sammelt Unterstützer und will Landtagsabgeordnete auf ihre Seite ziehen. Gerade hat Sprecher Borchert die Forderungen an Kultus-Staatssekretär Jan Hofmann übergeben.

In einem Punkt, hieß es nach dem Gespräch, seien sich beide Seiten einig gewesen: Mit der bundesweit niedrigsten Abiturientenquote sei in Sachsen-Anhalt niemand zufrieden.