1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Bürgermeister: "Wir sind jetzt richtig Westen"

Herausforderungen der Wendezeit Bürgermeister: "Wir sind jetzt richtig Westen"

21.05.2015, 01:11

Ein Biergarten an der Elbe. Die Volksstimme hat drei Bürgermeister zum Gespräch geladen, die nicht nur eine Anekdote aus 25 Jahren Kommunalpolitik in Sachsen-Anhalt zu erzählen haben. Die Fragen stellte Reporter Christopher Kissmann.

Volksstimme: Sehr geehrte Herren, Sie sind nun seit mindestens 25 Jahren Bürgermeister. Haben Sie sich 1990 vorstellen können, dass Sie einmal so lange im Amt sein würden?
Norbert Eichler: Ich wollte das eigentlich gar nicht machen. Ich wollte mich zwar in der neuen Zeit beteiligen, aber auf Bürgermeister hatte ich keinen Bock. Ehrenamtlich ja, das ging aber nicht. Ich bin überredet worden, am Ende sind jetzt 25 Jahre daraus geworden.

Eckhard Naumann: Ich wollte auch nicht ins Rathaus. Damals wurde der Bürgermeister ja noch durch den Stadtrat und nicht direkt gewählt. Wir hatten als SPD einen Kandidaten, der dann plötzlich nicht mehr mehrheitsfähig war. Auf einmal guckten mich alle an. Montag bin ich gefragt worden, Mittwoch war ich schon gewählt. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einlasse. Ich wusste nicht einmal, was ich verdiene.

Sie, Herr Fuchs, waren seit 1986 schon Bürgermeister in Jävenitz. Nicht viele Ihrer Kollegen haben sich nach der Wende halten können. Wie haben Sie das geschafft - noch dazu als SED-Mitglied?
Konrad Fuchs: Ich habe im November 1989 das Neue Forum beratend in den Gemeinderat aufgenommen - gegen den Willen meiner Räte. Die haben geschimpft: "Das ist gegen das Gesetz!" Ich habe gesagt: "Ja, aber wir müssen irgendwie darauf reagieren." Zur Kommunalwahl 1990 gab es dann natürlich Leute, die gefordert haben, dass alles "Alte" weg muss. Aber Jävenitz war ein Dorf, da kannte man sich, da war nichts geheim. Ich habe diese Forderung nicht akzeptiert, bin aus der SED ausgetreten und mit Ach und Krach Bürgermeister geblieben.

Der Gegenwind in der Wendezeit war nicht unerheblich. Warum haben Sie nicht hingeworfen?
Eichler: Es kamen die ersten Erfolge. Die Betriebe gingen nach der Umstellung auf die D-Mark pleite. Wir haben gegengesteuert und Flächen gekauft, um Betriebe ansiedeln zu können. Otto ist so ein Beispiel. Die wollten eigentlich nach Magdeburg, haben aber auf der Durchreise gesehen, dass in Haldensleben ein Gewerbegebiet entstand. Also haben die uns gefragt: "Habt ihr zusammenhängende Flächen?" Hatten wir nicht, aber ab da haben wir alles aufgekauft! Als wir die 53 Hektar an Otto verkauft hatten, habe ich noch nicht einmal alle Flächen besessen! Aber es ging gut und das hat Mut gemacht. Ich merkte: Man kann wirklich was bewegen.

Heute arbeiten die 3000 Menschen in Haldensleben, weil Sie schneller als Magdeburg waren?
Eichler: Ja. Wir waren schnell, weil wir damals nicht mit so viel Bürokratie kämpfen mussten wie heute. Horst Rehberger war zu dieser Zeit Wirtschaftsminister. Den habe ich um Unterstützung gebeten. "Wie viel braucht ihr denn?", hat er gefragt. Darauf ich: "20 Millionen." Da hat der gesagt: "Schreib das mal auf." Das hat nur ein paar Tage gedauert, da kam sein Staatssekretär selbst und hat das Geld vorbeigebracht.

Fuchs: Das wäre heute undenkbar! Bei meinem letzten Industriegebiet hatte ich zu tun mit dem Landesverwaltungsamt, der Investitionsbank, dem Wirtschaftsministerium und der Marketinggesellschaft - vier Behörden! Furchtbar!

Naumann: Wenn ich mich da mal einschalten darf: Ich sehe das etwas kritischer. Denn es war in der Wendezeit wirklich so: Wer sich an die Regeln gehalten hat, war der Dumme. Und diejenigen, die gesagt haben, interessiert uns alles nicht, die sind schneller vorwärts gekommen. Ich bin Anfang der 90er von Wittenberg aufs Dorf rausgezogen. Das, was ich da als Baugenehmigung bekommen habe, wäre bei uns nie durchgegangen! Als große Stadt standen wir von Anfang an unter großem Druck durch die Kommunalaufsicht. Die Dörfer dagegen konnten machen, was sie wollten.

Fuchs: Also alle nicht! Da muss ich widersprechen.

Naumann: Das mag ja sein. Aber ich möchte ein bisschen diesen Helden-Geschichten aus der Wendezeit widersprechen. Wir konnten nicht alles machen. In einem Punkt gebe ich Euch recht: Heute ersticken wir in unseren Regeln. Eine kreative Phase, in der man einfach mal etwas entscheidet, gibt es kaum noch. Die jungen Leute, die wir heute in der Verwaltung ausbilden, funktionieren auch schon nach diesem neuen Schema.

Eichler: Wie eine westdeutsche Behörde!

Naumann: So ist es. Wir sind jetzt richtig Westen.

In 25 Jahren sind Tausende Projekte über Ihren Tisch gegangen. Hat mal jemand versucht, Sie zu bestechen?
Eichler: Ich habe mal ein Kuvert von einem Unternehmer bekommen, der mir sagte, er finde meine Arbeit gut und ich solle von den 50 Mark schön mit meiner Frau essen gehen. Das habe ich natürlich nicht gemacht, sondern das Geld gespendet.

Fuchs: Ich habe mal mit einem westdeutschen Tiefbauunternehmer in Jävenitz eine Flasche Williams Christ Birne getrunken. Plötzlich packte der 1000 D-Mark aus. Davon habe ich zwei Kühlschränke für die Stadt gekauft: einen für die Schulspeisung, einen für die Kita. Er hat dafür aber keine Gegenleistung erwartet, das war kein Bestechungsversuch.

Eichler: So etwas war wirklich selten, in 25 Jahren gab es bei mir maximal fünf Versuche. Was die Politik gerade anstrebt mit mehr Korruptionsprävention, ist maßlos übertrieben.

Haben Sie mal mit einem Aufstieg in die Landespolitik geliebäugelt?
Fuchs: Wir sind alle angesprochen worden. Aber das war nie mein Thema. Ich brauche den Bezug zur Basis. Ich muss sehen, was ich entschieden habe.

Eichler: Oder verbrochen!

Fuchs (lacht): Ja, genau! Wenn man einen Fehler gemacht hat, dann merkt man das sofort und kann das korrigieren. Wenn man da oben sitzt, im Landtag, mit Fraktionszwang ...

Eichler: Ich sage nur Kinderförderungsgesetz ...

Fuchs: ... ja, das kann dann dabei herauskommen.

Wie glücklich waren Sie mit der Gemeindegebietsreform? Gardelegen ist heute mit 49 Ortsteilen flächenmäßig die drittgrößte Stadt Deutschlands.
Fuchs: Naja, wir sind einigermaßen gut durchgekommen. Mir wurden ja allein 18 Ortsteile zwangszugeteilt, weil sie sich nicht mit anderen Gemeinden über einen Zusammenschluss einigen konnten.

Eichler: Ich war immer ein Fürsprecher der Gemeindegebietsreform. Aber das Land hat keinen roten Faden vorgegeben, wie das andere Bundesländer getan haben. Die Zusammenschlüsse hätten stärker nach wirtschaftlichen und landsmannschaftlichen Aspekten erfolgen müssen. Bei uns haben persönliche Befindlichkeiten den Prozess bestimmt. Das kann ein Land eigentlich nicht zulassen.

Die Stadtpolitik hat sich in den vergangenen 25 Jahren sehr verändert. Viele Menschen beteiligen sich über soziale Medien ...
Eichler: Also, ich weiß nicht, was an den Internetmedien sozial sein soll. Ich sehe eher, dass es mehr Beschimpfungen und Verleumdungen gegen Amtsträger und die Verwaltung gibt. Ich brauche das nicht.

Naumann: Es wird kein Zurück geben. Die Bürger wollen mehr Beteiligung. Die Leute kommen aber nicht mehr abends zur Stadtratssitzung, sondern schauen ins Internet, wenn sie gerade auf dem Sofa sitzen und Zeit haben. Wir werden die Bürger - ob wir es wollen oder nicht - 24 Stunden lang online bedienen müssen.

Eichler: Machen wir ja!

Naumann: Ja, aber nicht nur als Einbahnstraße, nicht nur Dinge auf der Internetseite mitteilen. Die Bürger wollen mitwirken. Wenn die Sonnabend der Stadtverwaltung eine Nachricht schicken, wollen sie Montag eine Antwort haben.

Eichler: Mit wie viel Personal wollen wir denn das machen?

Naumann: Wir werden nicht drumherum kommen. Den zusätzlichen Aufwand müssen wir mit einer schnelleren inneren Bearbeitung in unseren Häusern kompensieren.

Umsetzen müssen das Ihre Nachfolger, am 6. Juli enden Ihre Amtszeiten. Was überwiegt: Wehmut oder Freude?
Naumann: Ich freue mich darauf, endlich nicht mehr durch meinen Kalender fremdbestimmt zu sein. Diese endlosen Sitzungen, manchmal drei Stunden, in denen du denkst: Worüber diskutieren wir hier eigentlich!

Eichler: Ich muss gestehen, dass ich mir zuletzt auch häufiger gesagt habe: Zwei Hauptausschüsse noch, dann hast du es geschafft!

Fuchs: Seit der letzten Stadtratswahl vor einem Jahr habe ich das Gefühl, dass das Niveau im Stadtrat nicht gerade gestiegen ist. Es gibt immer mehr Kommunalpolitiker, die nur noch ihre Interessen sehen und nicht das große Ganze.

Eichler: Ja, und das ist bedenklich. Denn die Summe der Partikularinteressen ergibt noch lange nicht das Gemeinwohl.

Naumann: Also, unser Wittenberger Stadtrat ist mit jeder Wahl qualifizierter, die Debatten inhaltsreicher geworden. Allerdings muss ich sagen: Die wichtigsten Akteure sind seit der Wende dabei, da hat eine Qualifizierung durch Alter stattgefunden. Das erhoffe ich mir bei den jetzt gewählten jungen Räten auch. Die denken immer wieder: Ich will das aber jetzt so haben, was kümmern uns die Regeln? Da müssen einige noch lernen.