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Flüchtlingspolitik Budde: "Vernunft walten lassen, statt abzuschieben"

30.06.2015, 01:05

Magdeburg l SPD-Chefin Katrin Budde greift die CDU an. Das undifferenzierte Abschieben schade Sachsen-Anhalt. Mit ihr sprach Volksstimme-Reporter Jens Schmidt.

Volksstimme: Frau Budde, Sie sagten, Deutschland sollte großzügiger mit Flüchtlingen umgehen. Was gefällt Ihnen nicht?
Katrin Budde: Derzeit gilt die Devise: Abgelehnte Asylbewerber sollen schnellstmöglich abgeschoben werden. Mein Koalitionspartner CDU betont das fast täglich. Ich halte das für nicht richtig. Wir sollten differenzierter vorgehen.

Was meinen Sie damit?
Warum muss Sachsen-Anhalt einen Arzt oder Facharbeiter aus Serbien oder Albanien wieder nach Hause schicken - wenn wir ihn hier dringend brauchen? Viele Betriebe haben gute Erfahrungen mit Leuten vom Balkan gemacht. Doch diese bekommen meist kein Asyl, da ihr Herkunftsland als sicher gilt. Viele verlassen ihre Heimat jedoch aus wirtschaftlichen Gründen. So lange wir kein modernes Zuwanderungsgesetz haben, werden Menschen aus dieser Region oft versuchen, über den Weg des Asyls nach Deutschland zu kommen. Wir brauchen daher andere Regeln.

Sie rufen nach dem Bund. Kann das Land nicht selber mehr tun? Etwa über die Härtefallkommission?
Diese Kommission entscheidet über unzumutbare Härten aus familiären Gründen. Wir als Land haben keine Instrumente in der Hand, abgelehnte Asylbewerber aufgrund beruflicher Kriterien doch hier zu behalten. Wir brauchen daher neue bundesgesetzliche Regelungen.

Das klingt nach: Alle, die nach Deutschland kommen, dürfen hier leben. Das fordert ja auch die Linke.
So weit will ich nicht gehen; das würde bei den meisten Einheimischen auf wenig Akzeptanz stoßen. Auch Zuwanderung braucht Regeln. Erstens: Politisch Verfolgte bekommen Asyl und Kriegsflüchtlinge bekommen Schutz. Zweitens: Alle anderen dürfen bleiben, wenn sie nachgefragte Berufe ausüben oder hier eine Ausbildung machen wollen. Ich denke da vor allem an Jugendliche, die zu uns kommen. Vor allem ihnen sollten wir Zeit geben - fürs Deutschlernen, für eine Berufsausbildung und um sich eine Stelle zu suchen. Wir sollten Vernunft walten lassen, statt abzuschieben.

Die CDU will zunächst mal den einheimischen jungen Leuten den Weg zu einer Berufsausbildung ebnen, vor allem den 20 Prozent Studienabbrechern.
Mit der Reaktivierung des eigenen Potenzials allein werden wir das Problem nicht lösen. Es ist heute schon absehbar, dass die Betriebe künftig ihre Ausbildungsplätze nicht mehr besetzen können. Auf 11.000 freie Lehrstellen werden bald nur noch 8.000 Schulabgänger aus den Sekundarschulen kommen. Ein Defizit von 3.000 Jugendlichen - Jahr für Jahr. Geburtenknick und Abwanderung aus den 90er Jahren beginnen zu wirken.

Was ich politisch nun überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann, ist der Vorschlag, den CDU und CSU bei ihrer Fraktionsvorsitzendenkonferenz in Magdeburg gemacht haben. Nach ihren Vorstellungen soll die gerade erst in Kraft getretene, vorsichtige Öffnung des Arbeitsmarktes für Flüchtlinge wieder zurückgefahren werden: Für Asylbewerber aus "sicheren Herkunftsländern" soll wieder ein Arbeitsverbot gelten. Dabei wissen wir alle, dass Vorbehalte in der Bevölkerung vor allem davon genährt werden, dass Flüchtlinge nicht arbeiten - weil sie nicht arbeiten dürfen.

Die zu erbringende Integrationsleistung bei Flüchtlingen ist groß. Wo liegen Sachsen-Anhalts Stärken, wo die Schwächen?
Stärken haben wir in der Aufnahmekultur - etwa in Sportvereinen, da höre ich viel Positives. Unsere größte Schwäche ist die Sprache. Damit meine ich sowohl unsere Fremdsprachenkenntnisse als auch die Deutschausbildung für die Flüchtlinge. Wir sind in Sachsen-Anhalt nicht sehr international eingestellt - selbst in vielen Behörden sprechen viele nicht ausreichend englisch. Und der Deutschunterricht ist eine der größten Herausforderungen. Es ist schwer, genügend Lehrer zu finden, da ja jetzt alle Länder geeignete Pädagogen suchen.

War es falsch, so viele Lehrerstellen in Sachsen-Anhalt zu streichen?
Es geht nicht um mehr Deutsch-Lehrer, wir brauchen Fachkräfte, die Deutsch als Fremdsprache lehren können. Das ist ein großer Unterschied. Ich denke, dass wir dafür auch Zugewanderte gewinnen sollten, die in ihrer Heimat Lehrer waren - und die mittlerweile die deutsche Sprache sehr gut beherrschen.

Wenn Ihre Einschätzung stimmt - läuft Sachsen-Anhalt nicht Gefahr, Fachkräfte wieder zu verlieren?
Das ist so. Wir hören immer wieder von syrischen Flüchtlingen, die im Jobcenter niemanden finden, der englisch spricht. Wenn der Erstkontakt nicht zustandekommt, verlieren wir Fachleute. Gerade für hochqualifizierte Kräfte wie Fachärzte ist Sachsen-Anhalt oft nur Durchgangsstation nach Westdeutschland oder Großbritannien. Diese missliche Lage wird sich hoffentlich bald ändern.

In Haldensleben werden im August erstmals Syrer, Jobberater und Dolmetscher zusammenkommen, um zu klären, welche Qualifikationen und Interessen sie mitbringen. Die Bundesagentur für Arbeit will ab September Mitarbeiter gleich in die Zentrale Anlaufstelle Halberstadt schicken, um zu erfragen, was die Flüchtlinge können. Das war bislang eine Blackbox. Ein unhaltbarer Zustand.

Einige sorgen sich, dass Ausländer ihnen den Job wegschnappen, da sie für ein paar Euro weniger arbeiten?
Ich glaube, die Sorge ist unbegründet. Mittlerweile wird in den Betrieben nicht mehr nach Lohn eingestellt. Entscheidend sind Qualifikation und Motivation.

Zuwanderer bringen nicht nur Qualifikationen sondern auch andere Sitten und Traditionen mit. In Berlin gab es gerade einen Kopftuch-Streit. Was halten Sie vom Kopftuch in Behörden und Schulen?
Mich persönlich stört das überhaupt nicht. Meine Toleranz endet da, wo die Menschenwürde verletzt wird - etwa bei der Beschneidung von Frauen oder bei Zwangsheirat. Unsere Gesetze gelten für alle und ich erwarte, dass unsere Richter das auch konsequent anwenden.

In manchen Regionen ist es üblich, Kinder zum Betteln zu schicken.
Damit hätte ich grundsätzlich ein Problem. In Deutschland gibt es ein soziales Auffangsystem, so dass es niemand nötig hat, zu betteln. Ich glaube, dass es auch den meisten Menschen unangenehm ist, angebettelt zu werden.

Eines müssen wir wissen: Es wird auch Ungewohntes auf uns zukommen. Und wir müssen nicht alles gut finden. Oder alles sofort gutfinden. Es muss nicht jeder gleich sagen: "Ich habe mit kopftuchtragenden Lehrerinnen kein Problem." Ich bin gegen uniformes Denken. Menschen brauchen Zeit, sich aufeinander einzustellen. Das geht nicht mit der Brechstange. Das ist überall so in der Welt und geht auch uns so, wenn wir woanders hinziehen. Und ich denke, dass ist nicht selten auch eine Generationenfrage. Mein Eindruck ist, dass junge Leute weniger Ressentiments haben. Sie sind in einem Europa ohne Grenzen aufgewachsen. Sie empfinden europäische Länder kaum noch als Ausland.

Noch ein Wort zur Unterbringung. In Sachsen-Anhalt stehen 120.000 Wohnungen leer, doch große Wohnungsunternehmen wollen Asylbewerber oft nicht haben - und Städte wie Magdeburg müssen Container mieten. Was ist da los?
Ich habe dafür überhaupt kein Verständnis. Vor allem nicht bei kommunalen Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften. Das ist ein Armutszeugnis. 25 Jahre lang hat der Staat den Wohnungsunternehmen finanziell geholfen: Beim Abriss, beim Stadtumbau, bei der Altschuldenhilfe. Auch deshalb haben diese Unternehmen jetzt eine gesellschaftliche Verantwortung, an der Integration der Flüchtlinge mitzuwirken.

Die Unternehmen klagen, sie bräuchten Sozialarbeiter, die sich um die Asylbewerber kümmern.
Die bekommen sie ja. Das Land stellt die Gelder jetzt im Nachtragshaushalt dafür ein. Dann werden wir sehen, ob das Argument ein ernstes oder nur ein vorgeschobenes war.

In Aufsichtsräten dieser Unternehmen sitzen auch Politiker: Warum machen diese nicht mehr Druck?
Den machen sie auch, aber ihr Einfluss ist begrenzt.

Müssen Gesetze geschärft werden?
Im Moment sehe ich dafür keinen Bedarf. Ich setze auf Einsicht.