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Rentenversicherung Wolfgang Kohl: "Wir müssen alle tiefer in die Tasche greifen"

18.07.2015, 00:58

Seit einem Jahr gibt es in Deutschland die Rente mit 63. Schon jetzt zeigt sich, dass die Zahl der Anträge höher als erwartet ist. Volksstimme-Redakteur Jens Schmidt sprach darüber mit Wolfgang Kohl, Chef der Rentenversicherung Mitteldeutschland.

Volksstimme: Herr Kohl, wie wird die Rente mit 63 in Mitteldeutschland angenommen?
Wolfgang Kohl: Stärker als wir das vermutet haben. Bundesweit gab es bislang gut 300.000 Anträge - davon 37.513 Anträge bei uns. Damit hat die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland den höchsten prozentualen Anteil unter allen regionalen Versicherungsträgern. Wenn man noch jene hinzurechnet, die bei der DRV Bund beziehungsweise bei der DRV Knappschaft-Bahn-See versichert sind, so kann man in den drei Ländern Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen mit insgesamt 60.000 bis 70.000 Antragstellern rechnen.

Wie erklären Sie sich den Run auf die Früh-Rente?
Im Osten haben wir immer noch geschlossenere Arbeitsbiografien - trotz erster Brüche nach der Wende. Da jedoch ABM und die Zeiten, in denen Arbeitslosengeld I bezogen wurde, mitzählen, kommen viele auf die geforderten 45 Beitragsjahre. Vor allem die Berücksichtigung einer kürzeren Arbeitslosigkeit erleichtert den Zugang vieler Ostdeutscher zu dieser Rentenart. Und es gibt einen weiteren Grund: Hier haben mehr Frauen als im Westen länger in die Rentenversicherung eingezahlt. Die höhere Beschäftigtenquote unter Frauen wirkt bis heute nach. Im Osten waren im vergangenen Jahr 44 Prozent der Antragsteller Frauen, im Westen waren es 35 Prozent.

In der Wirtschaft haben viele vor der Rente mit 63 gewarnt, da Fachleute nach Hause gehen. Das sind auch gute Einzahler in die Rentenkasse, die Ihnen verlorengehen. Wie bewerten Sie die Entwicklung?
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Wirtschaft davon zusammenbricht. Die Rente mit 63 ist zudem keine Dauereinrichtung. Ab dem nächsten Jahr steigt das Eintrittsalter schrittweise an - und ab dem Geburtsjahrgang 1964 gilt diese Rentenart wieder erst ab 65. Ich gehe aber davon aus, dass der Schub auf alle Fälle in diesem Jahr noch anhält.

Außerdem sollte man bedenken, dass nicht die Rente mit 63 den Großteil der Mehrkosten der Reform vom vergangenen Jahr ausmacht. Diese Rentenart wird in der gesamten Bundesrepublik mit schätzungsweise jährlich drei Milliarden Euro zu Buche schlagen - die Neuregelung für die Mütterrente jedoch mit sechs Milliarden Euro.

Die Finanzierung der Mütterrente aus der Rentenkasse halten Sie für falsch. Warum?
Unsere Kritik richtet sich nicht gegen die Mütterrente an sich, sondern gegen die Art der Finanzierung. Kindererziehung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Diese müsste von allen - also aus der Steuerkasse - getragen werden.

Aber die Rentenkasse braucht doch auch Nachwuchs - das sind die Einzahler von morgen?
Das ist richtig. Nur: Als mal entschieden wurde, dass für jedes ab 1992 geborene Kind drei Erziehungsjahre angerechnet werden, sollte etwas für die Zukunft getan werden. Die jungen Mütter und Väter sollten später für die Erziehung ihrer Kinder auch eine Anerkennung durch die Rente erhalten. Außerdem hatte man die Hoffnung, dadurch die Geburtenrate anzuheben oder zu stabilisieren. Mit der Reform der Mütterrente im vergangenen Jahr wollte man hingegen die Lebensleistung der Mütter aus der Vergangenheit besser honorieren: Für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, gibt es nun zwei Entgeltpunkte statt nur einen Punkt. Das ist ja auch in Ordnung. Aber diese sechs Milliarden Euro zahlen die Beitragszahler jetzt, die davon selber in der Zukunft nichts haben werden.

Etliche Rentnerinnen haben enttäuscht festgestellt, dass sie zwar mehr Mütterrente - dafür aber weniger Witwenrente erhalten. Da bleibt unterm Strich nicht viel Plus?
Das ist leider so. Die eigene Rentenhöhe wirkt sich auf die Witwenrente aus. Da waren etliche frustriert.

Die Rentenhöhen waren im Osten von 2002 bis 2011 im Sinkflug - da die Neu-Rentner auch oft lange Phasen der Arbeitslosigkeit hinter sich hatten. Nun steigen sie wieder. Wie kommt das?
Die durchschnittlichen Zahlbeträge steigen tatsächlich wieder - erfreulicherweise. Männer, die in Sachsen-Anhalt 2014 in Altersrente gingen, bekommen im Schnitt 945 Euro. 2011 waren es 859 Euro. Bei Frauen kletterte die Rente im selben Zeitraum von 667 auf 821 Euro. Wir hatten in den vergangenen Jahren einige deutliche Rentenerhöhungen. Der Trend nach oben wird sicherlich anhalten, denn nunmehr wirkt sich auch die abschlagsfreie Rente mit 63 aus. Es waren ja auch in den Jahren zuvor schon viele früher in den Ruhestand gegangen - allerdings haben sie deutliche Abzüge in Kauf genommen.

Menschen sollen länger arbeiten. Ist da schon ein Trend nach oben ablesbar?
Bislang kaum. In Mitteldeutschland gehen die Menschen im Schnitt mit 63,6 Jahren in Altersrente. 2010 lag das Mittel bei 62 Jahren.

Manch einer will doch gern länger arbeiten. Wie wirkt sich das auf die Rente aus?
Da gibt es drei verschiedene Möglichkeiten. Erstens: Wer vor der Regelaltersgrenze in den Ruhestand geht und dann noch etwas arbeitet, muss - je nach Verdiensthöhe und Rentenart - Abzüge von der Rente in Kauf nehmen. Wer seine vorgezogene Rente in voller Höhe behalten will, darf höchstens 450 Euro im Monat hinzuverdienen. Zweitens: Wer mit Erreichen der Regelaltersgrenze in Rente geht, darf danach so viel hinzuverdienen wie er will. Und es gibt eine dritte Variante: Man arbeitet über die Regelaltersgrenze hinaus und zahlt auch weiter in die Rentenkasse ein. Dann gibt es später nicht nur eine höhere Rente, sondern obendrauf noch einen Zuschlag: Für jeden Monat länger Arbeiten 0,5 Prozent - das sind im Jahr schon sechs Prozent.

Die Menschen werden immer älter. Wird das Rentenalter weiter nach oben klettern müssen?
Das wird noch eine spannende politische Debatte werden. Fakt ist, dass die Rentenbezugszeit immer weiter steigt. Fakt ist aber auch, dass schon die Rente mit 67 bei vielen Menschen auf wenig Sympathie trifft. Soll aber künftig der Beitragssatz für die Rentenversicherung bei maximal 22 Prozent bleiben - so, wie es politisch gewollt ist - dann wird die Altersgrenze immer weiter nach oben gehen müssen. Das ist der Preis dafür. Es gibt aber auch Alternativen: Wir könnten auch einen höheren Beitragssatz akzeptieren, dann könnte die Altersgrenze stabil bleiben.

Ende der 80er Jahre hatte man mal einen Beitragssatz von 26 bis 28 Prozent prognostiziert. An der Prognose hat sich nichts geändert, wohl aber an der Akzeptanz: Seit Ende der 90er Jahre geht es politisch darum, die Lohnnebenkosten zu senken oder stabil zu halten.

Ihr persönliches Plädoyer?
Ich plädiere für flexible Altersgrenzen ohne Abschläge - abhängig von der Versicherungsdauer. Versicherungsbeiträge über 22 Prozent dürfen kein Tabu sein, wenn wir Altersarmut vermeiden und auskömmliche Renten zahlen wollen. Allen muss klar sein: Wenn wir den aktuellen Standard halten oder sogar verbessern wollen, müssen wir alle tiefer in die Tasche greifen.