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Nach dem Unglück in der Bördegemeinde Hordorf Zehn Sekunden bis zur Weiche – ein Dorf steht unter Schock

Von Oliver Schlicht und Mathias Müller 01.02.2011, 04:35

Ein Dorf unter Schock. Auch zwei Tage nach dem Zugunglück gibt es in Hordorf nur ein Thema: Das tragische Zugunglück, das in der Nacht zum Sonntag zehn Menschen das Leben nahm. Viele sind zu Recht stolz auf die geleistete Hilfe. Andere berichten mit Tränen in den Augen von den leblosen Körpern, die am Bahndamm lagen.

Hordorf. Nur noch zwei Haufen Trümmer auf dem Feld neben dem Bahngleis erinnern an das schreckliche Ereignis. Zerborstene Scheibenteile, verdrehte Bolzen aus armdickem Stahl. Auf dem Boden liegen Gummihandschuhe von Sanitätern, in den Büschen wehen Reste von Fahrplan-Heftchen. Doch auch das wird bald aufgelesen sein.

Zwei Tage nach dem Unglück sind die Aufräumarbeiten am Ortsrand von Hordorf fast beendet. Die Aufräumarbeiten in den Köpfen der Menschen werden mehr Zeit brauchen. "Zehn Sekunden", sagt ein leitender Bahnangestellter mit orangefarbener Arbeitsweste und blickt in Richtung Bahnhof. "Wäre der Personenzug nur zehn Sekunden eher gekommen, hätte er die Weiche dort hinten erreicht." An der Weiche wird die Streckenführung zweigleisig. 300 Meter sind es vom Unglücksort bis zu Weiche. Zehn Sekunden Fahrt. Zehn Sekunden, die zehn Menschen aus dem Leben rissen.

Leid und Not erlebt

In der Stube von Familie Breutigam tickt die alte Wanduhr. Wolfgang, 67 Jahre, war 60 Jahre bei der Feuerwehr Hordorf. Dort hat er in Einsätzen einiges an Leid und Not erlebt. Doch bei der Erinnerung an die Nacht des Bahnunglücks wird er von seinen Gefühlen überwältigt. Mit dem Taschentuch reibt sich der alte Herr die Tränen aus den Augen. "Ich bin wegen der Sirene auch sofort hin. Doch dann habe ich die ganzen Toten auf den Gleisen liegen sehen. Ich habe mich sofort umgedreht und bin nach Hause zurück." Er habe schon zu viele Bilder im Kopf, die er nicht mehr loswird. Er kann das nicht mehr, sagt er.

Wolfgangs Sohn, Ralph Breutigam, war als Mitglied der Hordorfer Feuerwehr einer der ersten professionellen Retter am Unglücksort. 22 Feuerwehrkameraden aus Hordorf waren insgesamt beteiligt. Wie nah ging ihm der Einsatz? Ralph Breutigam überlegt nur kurz: "Ich habe da kein Problem mit, weil ich zu den Toten keine persönliche Beziehung habe." Schlimm seien Einsätze, bei denen die Körper der Verunglückten zerteilt wurden. Dies war in Hordorf nicht der Fall. Auch sei beim Eintreffen vor Ort schnell klar gewesen, dass die im Freien liegenden Personen das Unglück nicht überlebt hatten. "So konnten wir uns auch mental sofort auf die Gruppe im hinteren Wagen konzentrieren. Dort riefen die Menschen um Hilfe." Nur ein Passagier war in diesem Wagen ums Leben gekommen. Es gab unter den Fahrgästen auch nur ein Kind – das zehnjährige Mädchen überlebte das Unglück.

Die Hordorfer Feuerwehrleute hatten zu Beginn des Einsatzes an eine Übung geglaubt. Eine Übung am Sonnabendabend? Ralph Breutigam feierte mit Frau, Kindern und Freunden im Partykeller seines Hauses. "Wir haben Dart gespielt." Sein Bruder Dirk, ebenfalls Feuerwehrmann, war mit drei anderen Kameraden der Hordorfer Wehr im benachbarten Hornhausen bei einem "Spezialeinsatz" – sie tanzten einen lustigen Hütetanz auf einer Weiberfastnachtfeier. Und dann eine Übung? Ralph Breutigam: "Als wir am Bahnhof eintrafen, wussten wir sofort, dass es keine Übung ist."

Die Überlebenden im Wagen hatten Angst. Der Grund: Hunderte Liter Diesel-Kraftstoff waren ausgelaufen. Am Motorblock des Triebwagens brannte es. Bestand Explosionsgefahr? Breutigam: "Nein, das kann man nicht sagen. Diesel-Kraftstoff entzündet sich nicht so ohne weiteres. Aber die Angst der Menschen war nachvollziehbar." Etwa 30 Personen befanden sich in dem umgedreht auf dem Feld liegenden Wagen. Sofort wurden durch eingeschlagene Scheiben Leitern in den Wagen gestellt. "Nach zehn Minuten waren alle raus, die klettern konnten. Nach zehn weiteren Minuten hatten wir mit Liegen auch die anderen Überlebenden geborgen", erinnert sich Breutigam. Nach 22 Jahren, so der junge Mann, war dies nach vielen Verkehrsunfällen, nach unzähligen Bränden sein schlimmster Einsatz.

Lichtblitz am Bahnhof

Umso erstaunlicher ist es, dass die ersten Retter vor Ort keine ausgebildeten Sanitäter oder Feuerwehrleute waren, sondern normale Anwohner. Noch vor der Feuerwehr war Heiko Reese am Unglücksort. Der 40-Jährige wohnt etwa 300 Meter Luftlinie vom Bahnhof entfernt. "Meine Frau sah auf dem Heimweg dort einen hellen Lichtblitz", erzählt er. Und sie spürten beide eine starke Erschütterung.

Das Ehepaar fuhr mit dem Auto zum Bahnhof. Zunächst sah Heiko Reese die geschlossenen Bahnschranken und ein Auto, das davor wartete. "Ich dachte, Gott sei Dank, alles in Ordnung. Wer weiß, was da war", sagte der Kraftfahrzeugmeister. Er entschloss sich jedoch, noch einmal auf dem Bahnsteig nachzuschauen. "Da sah ich die ganze Tragödie." Auch der Mann aus dem wartenden Auto war ausgestiegen. Beide rannten nun an die Unglücksstelle. Vorbei an dem völlig unter Schock stehenden Bahnbeamten im Schrankenwärterhäuschen. Der Mann hatte das Unglück aus unmittelbarer Nähe ansehen müssen. Ihm blieb nur die Aufgabe, die Rettungskräfte zu alarmieren. Doch noch war niemand da.

Der Mann aus dem Auto hatte eine Taschenlampe und einen Feuerlöscher aus seinem Pkw mitgenommen. "Auf dem Bahnsteig lagen überall leblose Körper", beschrieb Heiko Reese den schrecklichen Anblick, der sich den beiden Männern bot. Mit dem Feuerlöscher bekämpften sie zunächst die lodernden Flammen am Triebwagen, dann liefen sie zum Ende des Zuges. Im umgestürzten Wagen hörte er die Überlebenden. "Ich versuchte, die Scheiben des hinteren Cockpits einzuschlagen, hatte aber keinen Erfolg", erzählt Reese. Dann wollte er auf den halbrund geformten Zug klettern, rutschte aber ab. Erst als ein dritter Mann kam und ihn nach oben schob, konnte Reese auf den Wagen steigen. "Dort schlug ich mit einem Stein die Seitenscheibe ein", erinnert er sich. Den im Waggon eingeschlossenen Menschen reichte er die Lampe, damit sie Licht hatten. "Ich redete mit Verletzten, um sie zu beruhigen", sagt Reese.

In den Wagen zu klettern, gelang ihm nicht. Doch wenig später sah er das Blaulicht der ersten Feuerwehrwagen, die am Bahnhof eintrafen. Ralph Breutigam und seine Kameraden eilten den Eingeschlossenen zu Hilfe.