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Bundeskanzlerin kommt zum Empfang des Ministerpräsidenten Knorrig, eigenwillig, populär: Böhmer wird heute 75 Jahre alt

Von Michael Bock 27.01.2011, 05:31

Ministerpräsident Wolfgang Böhmer wird heute 75 Jahre alt. Nach der Landtagswahl am 20. März beendet er seine politische Karriere. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird ihm heute Abend bei einem Empfang in der Staatskanzlei persönlich gratulieren.

Magdeburg. Diese Pressekonferenz ist etwas ganz Besonderes. Damals, im Jahr 2008, wird munter spekuliert, ob Böhmer bereits zur Mitte der Legislaturperiode sein Amt abgibt. Der Regierungschef kann sehr knorrig sein, diesmal aber wirkt er belustigt. "Einige können gar nicht abwarten, dass ich abkratze", sagt er und lächelt amüsiert. Kürzlich, so erzählt er, habe er sich bei der Gartenarbeit zwei Finger verletzt. "Wenn ich mir den Kopf abgehackt hätte", sagt er unverhofft und grinst breit, "hätten wir jetzt eine andere Situation." Schweigen im Raum, ungläubige Blicke. Nein, sagt Böhmer dann, "wenn es der liebe Gott zulässt, werde ich die Sache bis zum Ende durchhalten".

Es sind Geschichten wie diese, die Böhmer mancherorts den Ruf eingebracht haben, der eigentümlichste Landesvater Deutschlands zu sein. Der Parteipatriarch wirkt auf viele überraschend anders. Er ist in kein Klischee zu pressen. Böhmer passt so überhaupt nicht ins landläufige Bild des karrierebewussten Berufspolitikers.

"Ich hasse nichts mehr als rumzusitzen"

Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen fehlt ihm jeglicher Drang zur öffentlichen Selbstdarstellung. Um Talkshows macht er einen großen Bogen. Für langes Reden hat er nicht viel übrig. Aber was er sagt, das sitzt meist. Bei anderen stören ihn langatmige Ausführungen. Die Minister wissen: Trommelt Böhmer mit den Fingern auf den Tisch und zieht die buschigen Augenbrauen zusammen, sollte man flott zum Ende kommen. Auf die Frage, wie er die vergangene Bundespräsidentenwahl fand, hat er mal geantwortet: "Es war sehr warm. Das hat viel zu lange gedauert. Ich hasse nichts mehr als rumzusitzen."

Böhmer ist in seinem Leben immer in Bewegung geblieben. Er stammt aus der Oberlausitz (Sachsen), seine Eltern waren dort als Landwirte tätig. Schon als Kind muss er viel mitanpacken. Der Vater ist im Krieg, er der älteste Sohn. Heute erinnert sich Böhmer: "Ich habe fast alle Arbeiten machen müssen, die angefallen sind. Das war nicht immer einfach. Und ich weiß, dass mich das geprägt hat."

An der Karl-Marx-Universität in Leipzig absolviert er ein Medizinstudium, 1959 promoviert er. Ab 1960 ist Böhmer in der Frauenklinik in Görlitz tätig, dort wird er sieben Jahre später Erster Oberarzt. 1974 wechselt er als Gynäkologie-Chefarzt ins Krankenhaus Paul-Gerhardt-Stift in der Lutherstadt Wittenberg. Dieses Amt bekleidet der Professor bis 1991. Noch heute ist Böhmer ganz genau über seine alte Wirkungsstätte informiert. Denn dort arbeitet immer noch seine Ehefrau. Sie war seinerzeit OP-Schwester bei Chefarzt Böhmer.

"Ich war der am besten bezahlte Umschüler"

Bis zur Wende ist Böhmer "aus Überzeugung parteilos" geblieben. Im August 1990 fragen ihn zwei Vertreter der CDU, ob er nicht für den Landtag kandidieren wolle. Böhmer sagt zu, er tritt in die Partei ein. "Aus Dankbarkeit", wie er sagt. Zu DDR-Zeiten war sein Sohn in Schwierigkeiten geraten. In seinem Spind bei der Armee wurden Gedichte einer Schriftstellerin gefunden, die nach Westdeutschland ausgebürgert worden war. Der Sohn wird exmatrikuliert. Böhmer: "Leute aus der CDU haben mir damals geholfen, dass er nach einer sogenannten Bewährungszeit in der sozialistischen Produktion weiterstudieren durfte."

Böhmer hat zunächst völlig falsche Vorstellungen von der Parlamentsarbeit. "Unter einem Landtag stellte ich mir so was ähnliches wie den Bezirkstag der DDR vor, der einmal im Vierteljahr nachmittags tagte. Ich dachte, da kannst du mal mitmachen." Schnell merkt er, dass das Landtagsmandat die volle Kraft erfordert. In der bunt zusammengewürfelten Fraktion gewinnt er an Ansehen. Nach außen tritt er noch nicht so sehr in Erscheinung.

1991 wird Böhmer Finanzminister und ist plötzlich Chef von 250 Mitarbeitern. "Wahrscheinlich war ich in dieser Zeit der am besten bezahlte Umschüler", sagt er selbstironisch. Der Wittenberger fuchst sich schnell in die komplizierte Materie ein. Seine neuen, in Finanzfragen erfahrenen Mitarbeiter staunen: "Das ist ein politisches Naturtalent." Aus dem Stegreif kann er druckreife Reden halten.

Böhmer ist ein Mann, der nur wenig Emotionen zulässt. Es gibt nicht viele Menschen, die ihm wirklich nahekommen. Er agiert besonnen, bedächtig, ausgleichend, nie aufbrausend. Schnellschüsse sind nicht sein Ding. Er sammelt aus vielen Quellen viele Informationen, macht sich in aller Ruhe ein klares Bild und entscheidet dann ohne Hast. Böhmer sagt: "Für Ärzte gibt es allgemeine Entscheidungsmuster wie zum Beispiel: Klare Diagnose entscheidet über die Therapie. Das gilt letztlich auch in der Politik." Beim Umgang mit Geld vertritt der Finanzminister ganz eigene Ansichten. So hat Böhmer seinem Sohn kein Taschengeld gegeben, "weil ich der Grundüberzeugung bin, dass die Menschen nichts mehr verdirbt, als wenn sie Geld ohne Gegenleistung bekommen."

1993 tritt die gesamte CDU/FDP-Landesregierung infolge der sogenannten Gehälteraffäre zurück, Böhmer wird für kurze Zeit Sozialminister. Ab 1994 muss die CDU die harten Oppositionsbänke drücken. Vier Jahre später erlebt die Union bei der Landtagswahl ein Debakel – sie holt nur 22 Prozent. Die Partei ist in sich zerstritten und hoch verschuldet. In dieser äußerst schwierigen Situation übernimmt Böhmer den Parteivorsitz, von Juli 2001 bis April 2002 ist er auch Vorsitzender der Landtagsfraktion. Böhmer ordnet die Finanzen, er führt die Partei aus der Schockstarre heraus.

"Es gab Versuche, mich zu belehren"

Die Christdemokraten wählen ihn 2002 zum Spitzenkandidaten. Böhmer lässt sich – wie bereits bei den anderen Spitzenposten – in die Pflicht nehmen. "Ich habe mich nie um ein politisches Amt gerissen, ich bin eher gedrängt worden", sagt er. Die CDU klebt große Wahlplakate mit dem früheren Gynäkologen, auf denen steht: "Wir werden das Kind schon schaukeln." Die Union gewinnt die Wahl mit 37,3 Prozent und kommt wieder in die Regierung. Böhmer wird zum Ministerpräsidenten gewählt.

Der Wittenberger bleibt sich auch in dieser Funktion treu. Er leistet sich seinen eigenen Stil und schwimmt mitunter mit seiner Meinung gegen den Partei-Strom. So kritisiert er öffentlich Steuersenkungsversprechen im Wahlkampf, spricht sich gegen Mehrwertsteuer-Privilegien für Hoteliers aus und fordert, Spitzenverdiener stärker zu belasten. Auch den Führungsstil von Bundeskanzlerin Angela Merkel knöpft er sich vor: "Eine Koalitionsregierung kann man nicht so führen wie einen Familienbetrieb." Böhmer belässt es meist bei Nadelstichen, den ganz großen Krach riskiert er nicht.

Die Strategen in der Berliner Parteizentrale raufen sich mehr als nur einmal die Haare. Einfangen können sie Böhmer nicht. Der reagiert auf Anrufe aus der Parteizentrale mit fast schon aufreizender Gelassenheit. "Es gab Versuche, mich zu belehren", sagt Böhmer. "Ich habe dann mit größter Freundlichkeit gesagt: Mit solchen Versuchen kommen Sie zu spät, dafür bin ich zu alt."

"Gelegentlich stehe ich auf verlorenem Posten"

Auch im Land geht Böhmer nicht gerade zimperlich mit der eigenen Partei um. Als er vor einiger Zeit demonstrativ die Basisarbeit der Linken lobte, waren viele in der CDU sehr verschnupft. Es gab auch schon Parteitage, bei denen er die CDU-Delegierten mächtig schurigelte – und dafür kräftigen Applaus bekam. So was darf sich in der CDU nur ein Böhmer erlauben.

Ein Parteisoldat ist Böhmer nie gewesen. Auf die Frage, warum er in der DDR abgelehnt habe, in eine Partei zu gehen, hat er mal geantwortet: "Als Parteimitglied war man per Statut dazu verpflichtet, immer nur die Meinung der Partei zu vertreten. Das ist eine Position, die ich inhaltlich nicht nachvollziehen konnte. So weit wollte ich mich nicht entmündigen lassen."

Diese Unabhängigkeit hat sich Böhmer bis heute weitgehend bewahrt. Er sagt: "Ich habe mich immer bemüht, mich zu meiner Meinung zu bekennen. Gelegentlich stehe ich auch auf verlorenem Posten – vor allem, wenn es ums Geld geht."

Böhmer profiliert sich als eine Art Landesvater, der sich nicht scheut, auch unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen. Einer seiner Kernsätze lautet: "Lieber die unbarmherzige Wahrheit als eine barmherzige Lüge." Oder: "Ich stelle die Probleme lieber so nüchtern wie möglich dar, damit die Glaubwürdigkeit nicht verlorengeht."

Der Regierungschef ist bekannt dafür, wie er auf Druck von außen, vor allem der Medien, reagiert: rein gar nicht. Wer öffentlich einen Ministerrücktritt fordert, kann ganz sicher sein, dass es genau dazu nicht kommen wird – jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Auf Versuche, ihn in eine bestimmte Richtung zu drängen, reagiert Böhmer mit Sturheit. Wer es nicht gut mit ihm meint, spricht von Altersstarrsinn. Böhmer sagt: "Ich gebe mir Mühe, nicht auf jedes Windchen zu reagieren."

Kürzlich hat er gespöttelt, dass die Medien doch sehr hilfreich seien. Denn: "Aus denen darf ich täglich erfahren, was ich gestern wieder falsch gemacht habe. Man kann wirklich neidisch werden, was für kluge Leute da in den Redaktionen sitzen."

Der Ministerpräsident hat Sachsen-Anhalt, das zu Zeiten der von der PDS tolerierten SPD-Minderheitsregierung (1994 bis 2002) als Ort der Larmoyanz und des Selbstmitleids wahrgenommen wurde, zu neuem Ansehen verholfen. Wenn er in diesen Tagen von Neujahrsempfang zu Neujahrsempfang eilt, schlägt ihm viel Sympathie entgegen. Kammervertreter loben den wirtschaftlichen Aufholprozess Sachsen-Anhalts und das verbesserte Image des Landes.

Soviel Schulterklopfen ist Böhmer nicht geheuer. Er sagt lieber Sätze wie: "Wir waren nicht ganz unerfolgreich." Oder: "Wenn man auf meinen Grabstein einmal ,Er hat sich Mühe gegeben’ schreibt, wäre ich auch zufrieden."

"Man braucht eine Phase zum Abgewöhnen"

Nach der Landtagswahl wird sich Böhmer, der bei Meinungsumfragen auf die mit Abstand besten Sympathiewerte kommt, aus der Politik verabschieden. Gut, er hat seinen schönen großen Garten und seine ungeordnete Briefmarkensammlung. Er sagt: "Ich weiß, dass man eine Phase zum Abgewöhnen braucht. Abschiede gehören zum politischen Leben dazu. Es verbietet sich, Selbstverständlichkeiten zu bejammern." Er bekennt aber auch: "Ich würde mich wundern, wenn ich keine Entzugserscheinungen bekäme."