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Nach der Tötung einer Mitarbeiterin sitzt der Schock tief / Es gibt Alarmknöpfe - kommen bald Sicherheitsschleusen wie am Flughafen? Jobcenter: "Wir können uns nicht einmauern"

28.09.2012, 01:13

Nach der tödlichen Messerattacke im Jobcenter Neuss sind Mitarbeiter in Sachsen-Anhalts Behörden zutiefst bestürzt. Brauchen die Jobcenter Sicherheitsschleusen - wie etwa im Justizzentrum Magdeburg? Die Gerichte rüsteten auf, nachdem 2009 im Landgericht Dresden eine Zeugin erstochen worden war.

Magdeburg (vs) l "Es gibt immer mal wieder brenzlige Situationen, aber solch brutale Gewalt gehört nicht zur Tagesordnung", sagt Kristian Veil, Sprecher der für Sachsen-Anhalt und Thüringen zuständigen Arbeitsagentur in Halle. Natürlich sorgten sich jetzt viele Mitarbeiter. Und natürlich werde jetzt auch über Sicherheitsschleusen diskutiert. "Aber: Wir sind ein offenes Haus. Wir können uns nicht einmauern. Gegen solch eine Attacke wie in Neuss ist man nahezu machtlos."

In Sachsen-Anhalt betreuen 2000 Mitarbeiter in 14 Jobcentern Langzeitarbeitslose. Etwa 300 000 Menschen erhalten im Land Hartz-IV-Leistungen. In den Büros gibt es Alarmsysteme, es gibt Wachleute. Dennoch ist eine technische Aufrüstung nicht auszuschließen.

Die Justizbehörden Sachsen-Anhalts haben das bereits getan. Anlass war ebenfalls eine Messerattacke - passiert am Landgericht in Dresden vor drei Jahren. Ein wütender Angeklagter hatte eine Zeugin im Gerichtssaal erstochen. Daraufhin wurden Kontrollen verstärkt. 2011 bekam das Justizzentrum in Magdeburg eine Sicherheitsschleuse. Ähnlich wie am Flughafen müssen alle Besucher durch einen Metallrahmen laufen. Zudem schwenkt ein Wachmann mit einem Detektor über die Kleidung. Messer, Pistolen, scharfe metallische Gegenstände können so aufgespürt werden.

Wie ist die Lage in Jobcentern in den Regionen?

Pöbeleien an der Tagesordnung

Arnold Schulze, Leiter des Jobcenters Altmarkkreis Salzwedel, hörte die Nachricht im Radio. "Ich war zutiefst erschrocken. Man zieht doch gleich seine Schlüsse: Kann so etwas auch bei dir passieren? Was bedeutet das für dein Team?" Die Mitarbeiter seien im Umgang mit schwierigen Kunden geschult. "Sie sind geübt darin, beschwichtigend auf den Kunden einzuwirken, um so eine vernünftige Gesprächsgrundlage herzustellen." Normalerweise finden Gespräche unter vier Augen statt. Wenn jedoch absehbar sei, dass es Schwierigkeiten geben könnte, seien die Mitarbeiter auch zu zweit. "Und wenn es ganz schwierig werden sollte, ist das dann auch mal ein kräftiger Mann."

Es gebe im Jobcenter Altmarkkreis Salzwedel ein Notrufkonzept, das jetzt verbessert werden solle, kündigte Arnold Schulze an. Grundsätzlich sollen bisherige Vorkehrungen noch einmal überprüft werden, ob sie für den Ernstfall ausreichend seien. Allerdings gebe es schon Unterschiede zwischen dem Lande und den sozialen Brennpunktvierteln einer Großstadt "Unsere Kunden sind eigentlich umgänglich. Aber es kann trotzdem immer wieder Einzelfälle geben."

Antje Möhring, Sprecherin im Halberstädter Arbeitsamt, sagt: "Es gab vor Jahren einmal einen Bombenalarm mit der kompletten Evakuierung des Gebäudes, allerdings stellte sich das als eine bloße Drohung dar." Verbale Angriffe gebe es aber öfter. Im Haus patroulliert für alle sichtbar ein privater Wachdienst, es gibt einen "heißen Draht" zur Polizei. An jedem Arbeitsplatz besteht die Möglichkeit, einen Alarm auszulösen, sollte eine akute Gefahr für Leib und Leben bestehen.

Von Bedrohungen und gelegentlichen Handgreiflichkeiten berichtet Mandy Bantle von der Kommunalen Beschäftigungsagentur Wernigerode. "Es gibt praktisch regelmäßig verbale Übergriffe, leider auch hin und wieder körperliche Angriffe auf Mitarbeiter, allerdings bislang zum Glück noch nicht mit Waffen."

Im Jobcenter Stendal mit seinen Niederlassungen in Osterburg und Havelberg stehen die gut 260 Mitarbeiter unter dem Eindruck der Ereignisse um den Tod einer Angestellten des Jobcenters Neuss. "Wir sind hier alle sehr schockiert", sagt Katrin Schmalenberger-Laukert.

Schockiert: Sie war eine junge Mutter

Der Tod der 32-Jährigen geht ihnen nahe. "Sie war eine junge Mutter; es ist sehr traurig. Niemand hat das Recht, so zu reagieren, dass ein Mensch stirbt."

Im Stendaler Jobcenter gibt es seit Jahren einen Wachschutz, der rund um die Uhr zu den Öffnungszeiten präsent ist und bei Bedarf eingreift. "Das ist bisher nur in kleinen Ausnahmefällen notwendig gewesen", berichtet die Jobcenter-Sprecherin. Jeder Mitarbeiter sei mit der Telefonnummer des Wachmannes vertraut. Zudem habe jeder Angestellte an seinem Arbeitsplatz einen deutlich sichtbaren Notknopf, der sofort alle alarmiert, wenn Gefahr auftrete. Zudem sei jeder Arbeitsplatz im Jobcenter so angelegt, dass von dort aus jederzeit eine sofortige Flucht möglich sei oder man vom Nachbarbüro schnell eingreifen könne, falls das notwendig werde.

Dennoch ist Schmalenberger-Laukert auch klar: "Die absolute Sicherheit gibt es nicht. Wir wollen aber jedem Mitarbeiter und jedem Besucher ein Sicherheitsgefühl geben. Das funktioniert auch." Für sie ist so ein Fall wie der von Neuss auch "der absolute Ausnahmefall". Solche Fälle wie in Neuss änderten an den Schutzvorkehrungen für die eigenen Mitarbeiter derzeit nichts.

"Bisher gab es zum Glück noch keine tätlichen Übergriffe", erklärte Sirko Mösenthin, stellvertretender Geschäftsführer des Jobcenters Jerichower Land in Burg und Genthin. Auf mögliche Zwischenfälle sei man dennoch eingestellt.

Fehlalarm mit positiven Folgen

Zu den Öffnungszeiten ist jeweils ein Sicherheitsmann in den Fluren präsent. Meistens sind Kurzwahlen auf den Bürotelefonen eingerichtet, um mit einem Knopfdruck den Wachmann zu alarmieren. Auf jedem Mitarbeiterrechner gibt es zudem ein Alarmsymbol. Damit kann jeder Mitarbeiter in einer Gefahrensituation auf sich aufmerksam machen. "Das Signal kommt auf allen Rechnern an. Das funktioniert auch", weiß Mösenthin. Als das Symbol mal aus Versehen gedrückt worden sei, seien zahlreiche Mitarbeiter in das Büro geeilt, um zu helfen.

Die Menschen, die im Jobcenter betreut werden, würden in Notlagen stecken, so Mösenthin. Da sei viel Fingerspitzengefühl nötig. Wo Einsicht fehle, würden vom Jobcenter auch Hausverbote ausgesprochen, um erhitzte Gemüter abzukühlen.

Wolfgang Schumacher, Geschäftsführer des Jobcenters im Landkreis Börde, meint. "Trotz der Betroffenheit sollte man solche Einzelfälle nicht dramatisieren. Wir haben nun einmal offene Häuser, die jeder betreten kann." Auch ein Sicherheitsdienst hätte den tödlichen Übergriff nicht verhindern können. In der Geschäftsstelle Wanzleben war erst in der vergangenen Woche ein Polizei-Spezialeinsatzkommando im Einsatz: Ein 49-jähriger Arbeitsloser hatte seiner Sachbearbeiterin gedroht, am nächsten Tag mit einer Schusswaffe vorbeizukommen. Die SEK-Beamten hatten den Mann überwältigt, dabei aber keine Waffe finden können.

Helen Weigel, die stellvertretende Betriebsleiterin des Jobcenters im Salzlandkreis, warnt davor, ALG-II-Empfänger grundsätzlich zu kriminalisieren. Überall in der Arbeitswelt, wo Menschen miteinander zu tun haben, bestünde auch Konfliktpotenzial.

"Zu Aggressivität, also Bedrohungen und Beleidigungen, kommt es leider oft", erzählt Bärbel Wohmann, Vorstand der Kommunalen Beschäftigungsagentur Anhalt-Bitterfeld. Wenn eine Person wiederholt droht, erstatte man auch Anzeige bei der Polizei, um dem Ernstfall vorzubeugen.

Im Magdeburger Jobcenter gehören nach Auskunft von Denis Bertram Aggressionen von Kunden nicht zum Alltag. "Unser Ziel ist es, ein Vertrauensverhältnis zu unseren Kunden aufzubauen. Wir sind ein offenes Haus und wollen es auch bleiben."