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Als vor 20 Jahren bei Stapelburg die Grenze fiel Spaziergänger zwischen zwei Welten

Von Ulrich-Karl Engel 05.10.2009, 05:00

Vielleicht im Jahre 1992. " Das war der spekulierte Zeitraum für die Eröffnung eines zweiten Übergangs für den – freilich sehr einseitig gedachten – " Kleinen Grenzverkehr " im Harz. Niedersachsen hatte diesen Wunsch nach einem weiteren Grenzübergang an der Nordharzkante schon seit dem Grundlagenvertrag DDR-BRD von 1972 verfolgt. Am 27. April 1989 erhielt der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Abrecht bei einem DDRBesuch endlich vom Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker die prinzipielle Zusage, dass bei Bad Harzburg ein Grenzübergang eingerichtet würde. Im " Neuen Deutschland " einen Tag später fand sich dazu ein einziger Satz, aber für den erfahrenen DDRZeitungsleser reichte das schon aus, um diese " Sensation " zum Tagesgespräch in der Region zu machen …

Und dann kam der 11. November. Gegen 17 Uhr tauchte unter den unzähligen Berichten von der stündlich durchlässiger werdenden innerdeutschen Grenze die Meldung auf, dass soeben die Grenze zwischen Stapelburg in der DDR und Bad Harzburg in der BRD geöffnet worden war. Als gegen 20 Uhr meine Frau zu Hause in Blankenburg eintraf, gab es für mich kein Halten mehr : Ich wollte nach Stapelburg. Meine Frau übernahm unsere Kinder und ich den Trabant. Wenige hundert Meter gefahren, traf ich einen Kollegen und rief ihm durch die heruntergekurbelte Scheibe mein Fahrtziel zu. Seine Antwort : " Ich hole mir nur schnell eine Jacke und komme mit. "

Kurz vor Wernigerode war es dann schon vorbei mit der Fahrt in die Freiheit. Stau, die Straße war dicht. Also wenden, der Ortskenntnis vertrauen und über die Dörfer so dicht wie möglich nach Stapelburg vorstoßen. Bis zu einer Wiese am Ortsrand gelang das auch. Von dort brauchten wir uns nur in den Menschenstrom einzureihen, der in Vierer- bis Fünferreihen in Richtung Grenze strömte. Gegen 21 Uhr waren wir durch eine Lücke im Streckmetallzaun bis an das Grenzfl üsschen Ecker gelangt.

Über eine in der Flussmitte liegende Holzpalette hatten NVA und Bundesgrenzschutz einen Wechselverkehr organisiert. Also ein Schwung von Ost nach West, ein Schwung Rückkehrer von West nach Ost. Nebenan baute das Technische Hilfswerk an der Stabilisierung der noch vorhandenen Straßenbrücke. NVA-Grenzpioniere verlegten gleichzeitig Fahrbahnplatten im einstigen Todesstreifen. Alles war mit Scheinwerfern ausgeleuchtet – ein unwirkliches Bild.

Auf der Westseite brauchten wir uns dann nur treiben zu lassen, um schon nach wenigen Metern einen Bus Richtung Bad Harzburg zu besteigen. Beim Aussteigen am Rathaus wurde uns schon zugerufen : " Erste Etage, Zimmer ( soundso )". Wenige Minuten später hielt jeder von uns 100 DM Begrüßungsgeld in der Hand.

Alles war so schnell gegangen. Ich musste innehalten, um mich zu vergewissern : Wir träumten nicht. Wir waren gerade tatsächlich von einer Welt in die andere gelangt, als Spaziergänger. Wahnsinn !

Am nächsten Mittag war der " Lückenschluss " zwischen Stapelburg und Bad Harzburg soweit gediehen, dass das erste Fahrzeug über das Grenzfl üsschen Ecker fahren konnte. Ich habe mir das Kennzeichen gemerkt : RED 3-99. Auf westdeutscher Seite wurde dieser rote Wartburg von der Schülerin Maren Wintjen mit einer Rose begrüßt. Sie war mit ihrem Vater dort, Joachim Wintjen war damals Oberbaurat beim Straßenbauamt Goslar.

Wie sehr dieser Tag Lebenswege auf beiden Seiten der Grenze verändert hat, wird daran deutlich, dass ich wenige Monate später – inzwischen war ich Abgeordneter im Landtag von Sachsen-Anhalt – jenen mir damals noch völlig unbekannten Joachim Wintjen als Landrat des Landkreises Halberstadt traf. Aber das ist eine neue Geschichte.

Zum Grenzübergang bei Stapelburg ist noch anzufügen, dass die DDR-Seite schon in den Gesprächen mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten auf die komplizierte Verkehrsführung in der Ortslage Stapelburg hingewiesen und eine Ortsumfahrung ins Gespräch gebracht hatte. Der westdeutsche Gast stellte dafür auch eine Mitfi nanzierung in Aussicht.

Was politisch entschieden und nun so planmäßig vorbereitet werden sollte, wurde an jenem Sonntag von der neuen Wirklichkeit eingeholt und überholt : Eine endlose Autoschlange quälte sich durch Stapelburg. Das war der Auslöser, dass die überhaupt erste Ortsumfahrung im wiedergegründeten Land Sachsen-Anhalt auf der bereits für den Grenzübergang im Nordharz ins Auge gefassten Trasse gebaut worden ist. Nun jedoch nicht als Einbahnstraße für den " Kleinen Grenzverkehr " ausschließlich aus dem Westen, sondern für die reisenden Deutschen aus beiden und in beide Richtungen.

Ulrich-Karl Engel war 1989 Abteilungsleiter in den Harzer Werken Blankenburg, 1990-1998 Landtagsabgeordneter der Grünen und ist heute Referent im Ministerium für Landes-Im April 2007 schrieben die Verkehrsminister von Bund und Ländern in der " Brockenerklärung " die Absicht fest, an Straßen, die heute die ehemalige Grenze schneiden, auf den Akt der historischen Grenzöffnung von 1989 hinzuweisen. Die insgesamt 109 Gedenktafeln verzeichnen den Tag und die Uhrzeit, an dem die Grenze am jeweiligen Ort das erste Mal passierbar war. Die Broschüre dokumentiert den Weg von der Absichtserklärung über den ausgeschriebenen Gestaltungswettbewerb und dessen Teilnehmer bis zur Aufstellung der Gedenktafeln. Außerdem kommen Menschen zur Wort, die ihre Erinnerungen an die Grenzöffnung aufgeschrieben haben. Der nebenstehende Beitrag von Ulrich-Karl Engel ist einer der spannenden und lebendigen Rückblenden in eine Zeit, die für kommende Generationen kaum mehr als ein Datum im Geschichtsbuch sein wird. Die Broschüre will mithelfen, dass das Geschehen vor 20 Jahren im Gedächtnis der Menschen bleibt.

Die Brocken-Erklärung. Broschüre zur Grenzöffnung am 9. November 1989. Herausgegeben vom Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Sachsen-Anhalt, September 2009. Solange der Vorrat reicht, ist die Broschüre beim sachsenanhaltischen Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr erhältlich. ( Fax : 0391-5677509 ; E-Mail : gross@mlv.sachsen-anhalt.de )