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Historiker Mathias Tullner über frühere demografische Veränderungen im Raum Magdeburg "Unsere Zukunft ist noch nicht geschrieben"

Von Uwe Seidenfaden 15.04.2013, 21:39

Zukunftsforscher prognostizieren für die kommenden Jahrzehnte immer mehr ältere Menschen in Mitteldeutschland – mit weitreichenden Folgen für unsere Gesellschaft. Die Volksstimme sprach mit dem Magdeburger Historiker Professor Dr. Mathias Tullner (*) über frühere demografische Umwälzungen im Raum Magdeburg und die Lehren, die daraus gezogen werden können.

Volksstimme: Gab ist in der Geschichte Mitteldeutschlands, speziell im Raum Magdeburg, in historischer Vergangenheit ähnlich große Veränderungen, wie sie Demografen für die kommenden Jahrzehnte voraussagen?

Prof. Tullner: Es gab immer demografische Veränderungen aus ganz unterschiedlichen Gründen. Einschneidend waren z. B. der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen. Magdeburg war bis 1631 eine der größten Städte des Reiches. Deren Zerstörung hatte zur Folge, dass von 30 000 bis 40 000 Bewohnern nicht einmal 500 übrig geblieben waren. Das Mittelelbegebiet gehörte zu den deutschen Regionen mit den höchsten Bevölkerungsverlusten. Auf dem Lande wurden damals viele Ortschaften wüst. Etwa in der näheren Umgebung des Ortes Irxleben verzeichnen wir vier solche verschwundenen Orte.

Volksstimme: Hatte der Krieg Auswirkungen auf die Altersstruktur?

Prof. Tullner: Neben den unmittelbaren Kriegshandlungen kamen viele Menschen durch Plünderungen und andere Kriegsfolgen ums Leben: Frauen, Kinder, ältere Menschen, da gab es keinen Unterschied. Unter dem Nahrungsmangel und verbreiteten Infektionskrankheiten litten besonders die jüngsten und die ältesten Menschen. Nur sehr wenige wurden älter als 50 oder 60 Jahre. Durch die Kriegswirkungen sank die Lebenserwartung der Menschen erheblich. Für die Stadtgeschichte Magdeburgs war besonders wichtig, dass die Fachkräfte – Handwerker, Kaufleute, Schiffer – nicht mehr vorhanden waren.

Volksstimme: Der damalige Magdeburger Bürgermeister Otto von Guericke bemühte sich sehr um den Wiederaufbau Magdeburgs. Tat er auch etwas im Sinne heutiger Familien- und Sozialpolitik?

Prof. Tullner: Nun, er hatte versucht, die bürgerliche Oberschicht in das niederliegende Magdeburg zurückzuholen. Dazu bemühte er sich um Fachkräfte aller Art, nicht immer mit Erfolg. So galt die Elbestadt vor ihrer Zerstörung als ein Zentrum des Buchdrucks. Guericke fand jedoch nach dem Krieg niemanden, der seine Werke druckte. Daher erschienen seine Bücher zunächst in Holland.

Volksstimme: Magdeburg fiel nach dem Krieg an Brandenburg-Preußen. Die Herrscher riefen gut ausgebildete Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und anderswo in das Land - die Hugenotten. Profitierten davon auch Magdeburg und das Umland?

Prof. Tullner: In hohem Maße. In die entvölkerten Städte brachten die Einwanderer neue Technologien und auch Pflanzen mit. Sie erhielten besondere Privilegien – eigene Verwaltungen, Steuerfreiheiten, Religionsfreiheiten usw. Das führte auch zu Problemen Es dauerte zwei bis die Generationen, bis die kulturellen Differenzen mit den früheren Elbestädtern etwa durch Gründung gemeinsamer Familien langsam überwurden wurden.

Volksstimme: Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich im 19. Jahrhundert gingen für Magdeburg relativ glimpflich aus - die Eroberungszug Napoleon Bonapartes und der deutsch-französische Krieg 1870/71. Die Bevölkerungszahl stieg sogar noch. Wieso?

Prof. Tullner: Magdeburg hatte sich als Handelsstadt innerhalb Preußens erholt. Traditionell war und ist das Mittelelbegebiet mit Börde und Vorharz eine der wichtigsten mitteleuropäischen "Kornkammern". Vor dem Eisenbahnzeitalter hatte Magdeburg eine Schlüsselstellung im norddeutschen Handel und Verkehr inne. Die Stadt wurde im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer der am dynamischsten wachsenden Städte Deutschlands. Um 1835 war sie die wichtigste preußische Handelsstadt und in der Bevölkerungszahl mit Leipzig ebenbürtig. Zudem gab es frühe Ansätze der Industrialisierung vor allem durch den Anbau und die Verarbeitung von Zichorien und auch schon Zuckerrüben.

Volksstimme: Es war also vor allem die Landwirtschaft, die ab dem 18. Jahrhundert eine Bevölkerungsexplosion in Mitteldeutschland auslöste?

Prof. Tullner: Der Anbau neuer Pflanzen, z.B. Mais, Sonnenblumen, Kartoffeln und Erkenntnisse über die bessere Bewirtschaftung der Felder durch Fruchtfolgen führten auch zu Veränderungen in der Tierhaltung. Wurden z.B. früher die Schweine in den Wald getrieben, um Bucheckern zu suchen, konnten sie jetzt mit den Produkten des Ackerbaus gefüttert werden. Durch die bessere Nahrungsmittelversorgung stieg die Bevölkerungszahl im Raum Magdeburg zwischen 1820 und 1850 um rund 40 Prozent. Dabei hatten auch verbesserte medizinische Möglichkeiten und hygienische Bedingungen Anteil. Eine derartige Bevölkerungsexplosion hatte es in der Geschichte Mitteldeutschlands bis dahin noch nicht gegeben.

Volksstimme: Wie reagierten die damals Herrschenden auf die Bevölkerungsexplosion?

Prof. Tullner: Sie erkannten es durchaus als Problem. Als probates Mittel erschien vielen Landesfürsten die organisierte Auswanderung in die USA und die Kolonien europäischer Länder (z.B. Südafrika, Lateinamerika).

Volksstimme: War es nicht vor allem der Hunger, der im 18. Jahrhundert Menschen aus Irland, Schottland und auch aus Teilen Deutschlands nach Nordamerika wandern ließ?

Prof. Tullner: Das ist richtig. Auch aus dem Magdeburger Raum wanderten Menschen aus. Vor allem im 19. Jahrhundert war es auch politischer Druck und die Hoffnung auf mehr Freiheiten, die Menschen auswandern ließen. Zu den prominentesten Emigranten aus solchen Gründen gehören der Arzt Wilhelm Löwe aus Calbe und der Magdeburger Wilhelm Weitling.

Volksstimme: Viele Auswanderer waren noch jung. Was wurde aus den Alten?

Prof. Tullner: Freilich blieben Alte zurück. Aber damals war der Familienzusammenhalt viel größer als heute und viele Jüngere nahmen ihre Eltern usw. auch mit. Die Auswanderung nach Amerika aus dem Kreis Wolmirstedt ist unter anderem von Schülerprojekten des Gymnasiums Wolmirstedt untersucht worden, wo sich das konkret zeigte.

Volksstimme: Reichskanzler von Bismarck wollte das Bevölkerungsproblem auf andere Art und Weise lösen. Er schlug erstmals eine Altersrente vor. War das der bis heute wirkende Sündenfall?

Prof. Tullner: Von "Sündenfall" kann keine Rede sein. Bismarck war der erste Staatsmann, der staatliche Rentenzahlungen einführte und so vor allem die Unterschichten an den Staat binden wollte. Angesichts der Bevölkerungsentwicklung schlug er eine aus Steuern finanzierte Rente ab 70 Jahre vor. Die nur staatlich finanzierte Rente wurde jedoch von den damals sehr starken Liberalen abgelehnt. Herausgekommen ist das bis heute gültige Rentensystem. Zunächst kamen zwar nicht sehr viele in den Genuss dieser Rente, doch der Anfang war gemacht.

Volksstimme: In den Industriezentren wie Magdeburg konnte das aber nicht helfen. Oder?

Prof. Tullner: Geholfen hat es schon, war aber kaum ausreichend. Vor allem die Sozialdemokratie trat für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter ein, aber auch liberale "Werkvereine" waren wirksam. Es gab auch eine Reihe sozial denkender Unternehmer wie Rudolf Wolf, die betriebliche Regelungen geschaffen haben.

Volksstimme: Die Nazis führten weitere Sozialreformen ein. Sie förderten die Gesundheitsvorsorge und halfen Familien mit vielen Kindern. Veränderte das auch die Alterspyramide?

Prof. Tullner: Die Nazis versuchten durch Agitation, staatliche Anerkennung und verschiedene Sozialmaßnahmen die Zahl der Geburten zu steigern. Ziel war es, möglichst viele Soldaten für den beabsichtigten Weltkrieg bzw. Angehörige der "Herrenrasse" entsprechend ihrer grotesken Rassentheorie zu haben.

Volksstimme: Und dieser Plan ging auf?

Prof. Tullner: Er hat zumindest bei vielen Menschen damals Wirkung gezeigt. Es gab solche dubiosen Maßnahmen wie das "Mutterkreuz" in verschiedenen Stufen, welches an Mütter mit einer bestimmten Anzahl von Kindern verliehen wurde.

Volksstimme: Auch die DDR hatte zahlreiche Geburten- und Familienförderungsmaßnahmen. All das verhinderte nicht das DDR-Ende?

Prof. Tullner. Zunächst waren verschiedene familienfördernde Maßnahmen durchaus erfolgreich. Ab Mitte der 1960er Jahre dämpfte jedoch die Einführung der Verhütungspille diese Geburtenentwicklung. Daraufhin gab es weitere Maßnahmen wie eine stärkere Wohnraumförderung für junge Familien in den 70er Jahren. All das hat jungen Familien durchaus genützt, aber die Krise und das Ende der DDR konnten solche Maßnahmen nicht verhindern.

Volksstimme: Und die heutige Familienpolitik. Kann sie die Abwanderung von Arbeitskräften und die von Demografen prognostizierte Überalterung stoppen?

Prof. Tullner. Historiker sind keine Prognostiker. Die heutigen Maßnahmen der Landes- und Bundesregierung zur Förderung der Familien erscheinen mir aber durchaus sinnvoll und könnten schon noch verbessert werden.

Volksstimme: Was kann man aus historischer Sicht zu Brüchen in der Entwicklung Magdeburgs sagen?

Prof. Tullner: Für Magdeburg gibt es vor allem zwei Brüche: Die Zerstörung und Vernichtung der Stadt 1631 war ein entscheidender Einschnitt. Die Elbestadt war bis dahin eine der volkreichsten Städte des Reiches und Mittelpunkt von ganz Mittel- und Norddeutschland. Doch auch der Zweite Weltkrieg und die deutsche Teilung führten zu gravierenden Brüchen: Vor 1933 gab es in Magdeburg Pläne für eine Stadt von 800.000 Bewohnern. Im nahen Dessau waren die Junkers-Werke dabei, auf höchstem technischem Niveau das Zeitalter der modernen Luftfahrt zu gestalten. Magdeburg plante ernsthaft den ersten bemannten Raketenflug der Geschichte der Menschheit. Vieles davon war mit übertriebenen Hoffnungen verbunden, aber manches hätte sich ohne die Brüche und Katastrophen, die mit der NS-Diktatur ihren Anfang nahmen und deren Wirkungen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts blieben, anders gestaltet.

Volksstimme: Und wie sehen Sie die die Zukunft unserer Region?

Prof. Tullner: Unsere Zukunft ist noch nicht geschrieben. Doch kann ein Blick in die Geschichte hilfreich sein: Es hat Gründe für eine beispiellose Zuwanderung nach Mitteldeutschland seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis in die NS-Zeit gegeben. Der Hintergrund war eine Entwicklung zu einer führenden Wirtschaftsregion. Das sind wir zurzeit nicht, aber das kann und wird sich auch wieder ändern. Man kann nicht davon ausgehen, dass sich heutige Zustände unverändert in die Zukunft verlängern. Es gibt viele Entwicklungspotentiale.

Volksstimme: Danke für das Gespräch.

* Der Historiker Professor Dr. Mathias Tullner ist Leiter des Instituts für Geschichte an der Otto-von-Guericke-Universität und Vorsitzender der Otto-von-Guericke-Gesellschaft.

Mehr zum demografischen Wandel in Sachsen-Anhalt lesen Sie im Volksstimme-Dossier "Das Land im Wandel".