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Damals "völliges Neuland" Der Münchner Freispruch für das Internet vor 20 Jahren

Vor 20 Jahren wurde in München gewissermaßen das Internet freigesprochen. Ein Rückblick auf einen bemerkenswerten Prozess - und seine Folgen.

Von Britta Schultejans, dpa 15.11.2019, 11:43

München (dpa) - Richter Laszlo Ember wurde zum Schluss philosophisch: "Das Problem unserer Zeit ist, dass der technische Fortschritt den moralischen bei weitem überflügelt hat", sagte er am 17. November 1999.

Kurz zuvor hatte er den damals 36 Jahre alten Angeklagten Felix Somm freigesprochen. Das Verfahren gegen den früheren Geschäftsführers des Onlinedienstes Compuserve Deutschland gilt als Pilot-Prozess zu Pornos im Internet und machte vor 20 Jahren bundesweit Schlagzeilen.

"Es war ein völliges Neuland, das damals betreten wurde", sagt Franz von Hunoltstein, der damalige Staatsanwalt, heute der Deutschen Presse-Agentur.

"Es war rechtlich schwierig und auch technisch schwierig. Man kannte sich mit dem Internet ja damals noch nicht so aus." Ein Techniker habe die Prozessparteien unterstützen müssen. "Ich weiß, dass ich das damals als spektakulär empfunden habe. Es war schon einer der großen Prozesse, an die man sich später noch erinnert."

Die Staatsanwaltschaft wollte den Compuserve-Geschäftsführer für Dinge verantworzlich machen, die von Kunden begangen wurden: Somm wurde wegen Mittäterschaft bei der Verbreitung von Kinder- und Tierpornografie im Internet angeklagt.

Das Amtsgericht hatte ihn ein Jahr vorher in erster Instanz für schuldig befunden und zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren und einer Geldbuße von 100.000 D-Mark verurteilt - obwohl Staatsanwaltschaft und Verteidigung beide in bemerkenswert seltener Einigkeit einen Freispruch gefordert hatten.

Ein Jahr später kassierte das Landgericht dann die umstrittene Entscheidung und eine ganze Branche atmete auf. "Diensteanbieter sind für fremde Inhalte, die sie zur Nutzung bereithalten, nur dann verantwortlich, wenn sie von diesen Inhalten Kenntnis haben und es ihnen technisch möglich und zumutbar ist, deren Nutzung zu verhindern", hieß es in dem Urteil. Die Verteidigung wertete den Freispruch als Stärkung der Rechtssicherheit für die Internet-Industrie.

"Das Urteil war damals eine Befreiung für eine ganze Szene", sagt Thomas Hoeren, Professor für Telekommunikations- und Medienrecht an der Uni Münster. "Die Bayern haben versucht, Tabula Rasa zu machen." Denn das Internet sei "immer schon ein Dorn im Auge des BKA und der Musikindustrie" gewesen. Der Freistaat habe ein Internet-Exempel statuieren wollen. "Die wollten das partout zumachen."

Doch es kam anders: Das Somm-Urteil gilt heute als Grundlage für das freie, grenzenlose, aber eben auch unkontrollierbare Internet, wie es heute in Deutschland verfügbar ist - zum Glück, sagt Hoeren. "Sonst baut man chinesische Mauern."

Die Debatte um die "Störerhaftung" reißt aber nicht ab. Inzwischen sieht Hoeren die rechtliche Grundlage von damals aber erschüttert. "20 Jahre war Ruhe und jetzt kommen Leute, die anfangen, das wieder infrage zu stellen", sagt Hoeren. "Das finde ich ganz bedauerlich."

So sieht das auch die Wirtschaftsanwältin Malaika Nolde, die einige Jahre eng mit Somms damaligem Anwalt Ulrich Sieber am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg zusammengearbeitet hat. Die Rechtsprechung von damals werde in der Debatte um zu sperrende Online-Inhalte "zunehmend aufgeweicht", sagt sie.

Nolde meint: Ohne den Somm-Freispruch wäre das Internet in Deutschland in seiner Innovationskraft massiv gebremst worden. Die Gefahr besteht aus ihrer Sicht nun wieder, wenn Anbieter zunehmend in die Pflicht genommen und für Inhalte zur Verantwortung gezogen werden sollen. "Wir sollten eine Rechtsklarheit hochhalten, um die Digitalisierung voran zu bringen."

Auch wenn er mit dem Urteil den Anträgen beider Prozessparteien nachkam, verkündete Richter Ember das Urteil damals übrigens nicht frohen Herzens: Es sei "so oder so unbefriedigend", betonte er. Auch wenn den Angeklagten Somm keine Schuld treffe, müsse er festhalten, dass mit dem Internet eine große Gefahrenquelle geschaffen worden sei.

Der inzwischen gestorbene Gutachter Andreas Pfitzmann, damals an der Technischen Universität Dresden, brachte es in der Verhandlung so auf den Punkt: "Einen halbwegs sozialen Charakter des Internets kann man nur hinkriegen, wenn die Nutzer mitmachen. Das Internet ist zu komplex, die Betreiber allein schaffen das nicht."

Der Online-Dienst Compuserve, der damals im Blickpunkt der Debatte stand, ist inzwischen auch Geschichte: Er wurde 1998 durch den Konkurrenten AOL übernommen und elf Jahre später am 6. Juli 2009 abgeschaltet.

Infos zum Schlussplädoyer der Verteidigers Ulrich Sievers

Entgegnung des Verteidigers Ulrich Sievers auf die Anklage im Prozess vor dem Amtsgericht 1998