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Parlamentsgebäude gestürmt Chaos in Kirgistan: Demonstranten erzwingen Wahlannullierung

In der Ex-Sowjetrepublik Kirgistan sorgen Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl für massiven Unmut in der Bevölkerung. Nun lenkt die Wahlkommission mit einer überraschenden Entscheidung ein. Steuert das bitterarme Land in eine neue politische Krise?

Von Von Claudia Thaler und Ulf Mauder, dpa 06.10.2020, 17:56

Bischkek (dpa) - Nach massiven Protesten hat die Wahlleitung im zentralasiatischen Kirgistan die Parlamentswahl für ungültig erklärt. Das teilte die Behörde am Dienstag in der Hauptstadt Bischkek mit.

Begründet wurde die Entscheidung mit Manipulationen bei der Wahl vom Sonntag und den darauffolgenden Spannungen in der Ex-Sowjetrepublik. In der Hauptstadt war es zu Ausschreitungen gekommen, bei denen Demonstranten das Parlament besetzt hatten. Die verarmte Ex-Sowjetrepublik mit rund sechs Millionen Einwohnern steht nach zwei Revolutionen möglicherweise vor einem neuen Umbruch.

In der Nacht zum Dienstag hatten zahlreiche Menschen mehrere Verwaltungsgebäude gestürmt. Auf Videos war zu sehen, wie Autos im Zentrum brannten und das massive Tor zum Parlament und zum Präsidialamt aufgebrochen wurde. Im Gebäude sollen Feuer gelegt worden sein. Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfer, Tränengas und Blendgranaten gegen die Menschenmenge ein. Fast 600 Menschen wurden verletzt, wie das Gesundheitsministerium mitteilte.

Zudem befreiten Demonstranten mehrere Politiker aus dem Gefängnis, darunter den wegen Korruption inhaftierten Ex-Präsidenten Almasbek Atambajew und den Oppositionellen Sadyr Schaparow. Die Demonstranten forderten, Schaparow die Führung des Landes zu übergeben. Das Parlament stimmte bei einer Sondersitzung zu. Zuvor war der Bürgermeister von Bischkek zurückgetreten.

Am Dienstagabend versammelten sich wieder viele Menschen vor dem Regierungsgebäude. Sie verfolgten kirgisischen Medien zufolge die Gespräche über eine Übergangsregierung.

Rund 3,5 Millionen Wähler hatten in dem Hochgebirgsland an der Grenze zu China am Sonntag über ein neues Parlament abgestimmt. Dabei holten sich die beiden regierungsnahen Parteien Birimdik (Einheit) und Mekenim Kirgistan (Mein Vaterland Kirgistan) eine deutliche Mehrheit im Parlament. Bei der Abstimmung gab es jedoch grobe Manipulationen und Stimmenkauf, wie auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bestätigte.

Die Gründe für den Unmut in der Bevölkerung lägen jedoch tiefer, sagte die kirgisische Politologin Elmira Nogojbajewa. Neben Sehnsucht vieler Menschen nach Stabilität und Wohlstand gebe es jetzt auch eine große Angst vor der Corona-Krise. Das bitterarme Land zählt inzwischen rund 50.000 Infektionsfälle und mehr als 1000 Tote. Viele Menschen können sich Medikamente oder ärztliche Hilfe nicht leisten, weil die Arbeitslosigkeit extrem hoch ist. Mehr als eine Million Kirgisen leben als Gastarbeiter im Ausland und können wegen Arbeitsausfall kein Geld in die Heimat schicken.

"Die Proteste sind auch eine Botschaft an die Regierung, mehr zu tun", sagte die Expertin der Deutschen Presse-Agentur. "Es gibt Korruption und Vetternwirtschaft im Staat. Die Regierung ist nicht effektiv und praktisch eine Marionette von herrschenden Clans."

Präsident Sooronbaj Dscheenbekow, der seit 2017 im Amt ist, warf der Opposition den Versuch einer illegalen Machtergreifung vor. Sie habe die Wahl zum Anlass genommen, um Unruhe im Land zu stiften. Dscheenbekow sagte, dass er auf einen Schießbefehl verzichtet habe, um ein Blutvergießen zu verhindern. Es gab auch Forderungen, Dscheenbekow abzusetzen. Er zeigte sich zugleich zu Gesprächen mit der Opposition bereit. "Wir müssen uns an den Verhandlungstisch setzen", sagte er am Abend in einem BBC-Interview.

"Die politische Situation ist im Moment sehr chaotisch", sagte die Politologin Nogojbajewa. "Es ist schwer vorherzusagen, in welche Richtung das Land nun steuert: von Bürgerkrieg bis echten demokratischen Veränderungen ist alles möglich."

Russland als Verbündeter des Landes zeigte sich beunruhigt. "Wir hoffen, dass alle politischen Kräfte eine Lösung für die Situation finden", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Alle sollten auf Grundlage der Verfassung handeln.

Kirgistan ist nach den Revolutionen der Vergangenheit eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Nach dem Sturz von Präsident Kurmanbek Bakijew 2010 hatte die demokratische Politikerin Rosa Otunbajewa die Führung übernommen. Sie war die erste Frau an der Spitze und setzte bis dahin in der von autoritären Staatschefs geprägten Region beispiellose demokratische Reformen durch.

In dem stark von politischen Clanstrukturen geprägten Land gab es zuletzt nach Meinung von Menschenrechtlern aber wieder Rückschritte. Ex-Staatschef Atambajew war im Juni wegen Korruption zu rund elf Jahren Haft verurteilt worden. Er soll einem verurteilten Kriminellen zur Flucht verholfen haben. Der Sozialdemokrat hatte das Land von 2011 bis 2017 geführt.

© dpa-infocom, dpa:201006-99-839684/10

Auswärtiges Amt zu Kirgistan