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Im Norden von Äthiopien Konflikt in Tigray: Destabilisiert er die gesamte Region?

Eine Offensive in Tigray in Äthiopien hat sich in einen komplexen Konflikt verwandelt. Tausende Notleidende bekommen nicht genug Hilfe. Der Konflikt könnte weitere verheerende Folgen haben - denn er droht, wie ein schwarzes Loch die gesamte Region zu verschlucken.

Von Gioia Forster, dpa 02.02.2021, 06:24
Nariman El-Mofty
Nariman El-Mofty AP

Addis Abeba (dpa) - Eigentlich sollte der Militäreinsatz in Tigray im Norden von Äthiopien schnell gehen: Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) verdrängen, Ordnung schaffen, die Machtbalance wiederherstellen. Doch Äthiopiens Regierungschef Abiy Ahmed hat sich verkalkuliert.

Die Grundversorgung von Millionen von Menschen ist zusammengebrochen und bei der Bevölkerung kommt nicht genug Hilfe an - Helfer warnen inzwischen vor einer Hungerkrise. Und der Konflikt mit der TPLF hat sich in einen komplexen Krieg verwandelt, der den Nachbarn Eritrea mit hineingezogen hat und droht, die ganze Region zu destabilisieren. Das könnte bis hin nach Europa zu spüren sein.

"Viele Menschen sind auf der Flucht. Viele Dinge, die einst funktionierten, funktionieren nicht", beschreibt Edward Brown, der Leiter der Hilfsorganisation World Vision in Äthiopien, die Lage vor Ort. In Tigray sei es zuvor eigentlich friedlich gewesen und es habe ein reges wirtschaftliches Leben gegeben. "Dann passierten die Ereignisse vom November. Das war ein Schock für das System."

Im November - da schickte Abiy Truppen nach Tigray. Seit seinem Amtsantritt 2018 hatten sich Spannungen zwischen seiner Regierung und der TPLF aufgebaut. Denn die TPLF dominierte fast 30 Jahre lang die Politik in Äthiopien und regierte mit harter Hand, bis Abiy sie hinausdrängte. In der Region Tigray blieb die Partei und einstige Rebellengruppe jedoch weiter an der Macht. Als sie sich im September der Zentralregierung widersetzte und trotz der Corona-Pandemie eine Regionalwahl abhielt, spitzte sich die Lage zu.

"Fast die komplette Region braucht Nahrungsmittelhilfe", sagt Kate White, die medizinische Nothilfe-Managerin für Tigray von Ärzte Ohne Grenzen. Viele Menschen sind auf der Flucht und konnten ihre Ernte nicht einholen. Selbst die, die noch ein Dach über dem Kopf haben, brauchen Hilfe: Denn noch immer haben viele keinen Strom, keinen Zugang zu fließendem Wasser, wegen geschlossener Banken keinen Zugang zu ihrem Geld und wegen gekappter Internet- und Telefonverbindungen kaum Kontakt zur Außenwelt. Derzeit komme nicht genug Hilfe rein, um die Nöte aller Menschen zu lindern, sagt White. "Sollte nicht bald mehr Hilfe kommen, wird sich die Lage nur verschlimmern."

Neben den Einwohnern leiden auch die Flüchtlinge. In Tigray gab es vor dem Konflikt vier Flüchtlingslager, in denen rund 96 000 Millionen Eritreer lebten. Als die Kämpfe losgingen, mussten internationale Helfer Tigray verlassen, wie der Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Deutschland, Chris Melzer, sagt. Die zwei Lager im Süden seien dann zwei Monate komplett von jeglicher Hilfe abgeschnitten gewesen, bis wieder Nahrungsmittel geliefert werden konnten. Wie es um die beiden nördlichen Camps steht, wisse man nicht. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk sei noch kein Zugang gewährt worden, sagt Melzer. "Wir wissen nicht, wie es den Menschen geht."

Eigentlich hatten sich die Regierung Äthiopiens und die Vereinten Nationen im Dezember auf "ungehinderten, anhaltenden und sicheren" Zugang zu den Notleidenden verständigt. Doch die Realität sieht anders aus. Das UN-Nothilfebüro Ocha teilte jüngst mit, obwohl es bei der Freigabe für die Lieferung von Fracht Fortschritte gebe, habe es von der Regierung noch keine Genehmigung für die Entsendung kritischer Mitarbeiter gegeben. Mindestens 74 Mitarbeiter würden auf eine entsprechende Befugnis warten. Auf die Frage, warum das UNHCR noch keinen Zugang zu den nördlichen Flüchtlingslagern bekommen habe, sagt Melzer: "Die Regierung spricht von Sicherheitsproblemen."

Noch im November hatte Addis Abeba die Militäroffensive gegen die TPLF für beendet erklärt - dennoch gehen die Kämpfe weiter. Und sie sind komplexer geworden. Neben der nationalen Armee und der TPLF sind nun auch Milizen der Nachbarregion Amhara, eritreische Soldaten und junge tigrayische Kämpfer involviert, wie Annette Weber von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erklärt. "Wir sind in Äthiopien noch lange nicht am Ende des Konflikts."

Doch dieser droht nun, die Region zu destabilisieren. Zum einen wurde der Nachbar Eritrea in den Konflikt hineingezogen, mit dem Äthiopien einst einen blutigen Grenzkrieg geführt hatte. Eritrea wird von dem autokratischen Präsidenten Isaias Afewerki regiert. Der harte Wehrdienst im Land hat bereits Tausende in die Flucht getrieben, viele davon nach Deutschland. Die eritreischen Soldaten seien auf Einladung der äthiopischen Regierung in Tigray, würden aber nicht von ihr kontrolliert, warnt Weber. "Es könnte sogar sein, dass das in eine Besatzung übergeht."

Zum anderen eskalieren die Spannungen mit dem Sudan. Der Nachbar hat trotz seiner eigenen miserablen Wirtschaftslage 60 000 Flüchtlinge aus Tigray aufgenommen. Die Verhandlungen über den umstrittenen GERD-Staudamm - die Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre - in Äthiopien sind jüngst erneut abgebrochen worden. Und ein langjähriger Disput über ein Grenzgebiet ist nun wieder aufgeflammt, auf beiden Seiten haben die Staaten Truppen mobilisiert. Diese Eskalation müsse gestoppt werden, bevor es zu einem Krieg kommt, mahnt Weber. "Das kann sich keiner der beiden leisten."

Dies hätte auch Auswirkungen über die Region hinaus. Denn der Sudan und Äthiopien sind Schlüsselländer in Afrika. Äthiopien mit seinen 112 Millionen Einwohnern und dem Sitz der Afrikanischen Union (AU) und der Sudan am Scheideweg zwischen Afrika und der arabischen Welt haben großen Einfluss auf wichtige regionale Entwicklungen, von Migration gen Europa bis hin zur Terrorbekämpfung. Doch beide Staaten sind instabil. Neben dem Konflikt in Tigray könnten Abiy andere ethnische Spannungen aus dem Ruder laufen. Und der Sudan ist nach dem Putsch von 2019 noch immer politisch und wirtschaftlich sehr fragil. Die Wirtschaftsprobleme der Region, der Krieg in Äthiopien und am Ende womöglich ein triumphierender Präsident Isaias in Eritrea - "das sollte uns Europäer enorm besorgen", sagt Weber.

© dpa-infocom, dpa:210202-99-263896/2