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Fachärzte Inkontinenz auf der Tabuzone holen

Anlässlich des deutschen Inkontinenztages wollen Magdeburger Fachärzte ein aus Scham oftmals verschwiegenes Thema aus der Tabuzone holen.

Von Uwe Seidenfaden 30.06.2019, 06:00

Magdeburg l Kleinkinder müssen noch viel lernen. Vieles ist später scheinbar selbstverständlich, z.B. laufen, sprechen und die bewusste Kontrolle über Harnblasen- und Darmentleerung. Umso mehr empfinden erwachsene Menschen einen unwillkürlichen Harnverlust im Alter als beschämend. Aus Angst davor, dass er ruchbar wird oder nicht mehr rechtzeitig die Toilette zu erreichen, ziehen nicht wenige Patienten sich aus dem sozialen Leben zurück.

„Von einem unwillkürlichen Harnverlust betroffen sind in der Mehrzahl Frauen, aber immer öfter auch Männer“, sagt Dr. Rainer Hein, Chefarzt der Klinik für Urologie und Kinderurologie am Klinikum Magdeburg. Als Berater der Deutschen Kontinenzgesellschaft e.V. engagiert er sich bundesweit für die Enttabuisierung des unfreiwilligen Harnverlustes.

Es gibt viele verschiedene Gründe für eine Harninkontinenz. Bei Frauen zählen dazu Überlastungen der Blasen- und Beckenmuskulatur infolge von Geburten, Bindegewebsschwäche, hormonellen Veränderungen und starkes Übergewicht. Bei Männern ist der unfreiwillige Harnverlust nicht selten Folge einer radikalen Operation bei Prostatakrebs.

„Inkontinenz ist ein individuell mit sehr viel Scham besetztes Thema“, bestätigt die Frauenärztin Annegret Diallo, Oberärztin am Klinikum Magdeburg. Die meisten Frauen suchen anfangs nicht gleich die Hilfe von Gynäkologen und Urologen, sondern „behandeln“ sich selbst mit Einlagen, die den unfreiwilligen Harnabgang speichern.

Dabei gibt es für die meisten Patientinnen durchaus wirkungsvollere Therapien, die eine bessere Lebensqualität ermöglichen könnten. Voraussetzung ist eine fachärztliche Diagnostik. „Leider dauert es durchschnittlich noch immer etwa zehn Jahre, bis Patientinnen über das Tabu-Thema mit Ärzten sprechen“, sagt Chefarzt Dr. Hein.

Mediziner unterscheiden verschiedene Formen der Harninkontinenz (siehe Infokasten). Bei einem unwillkürlichen Urinabgang unter körperlicher Belastung sprechen Ärzte von einer Stress- bzw. Belastungs-Inkontinenz. Auslöser sind oftmals Schwächen in der Beckenboden- bzw. Schließmuskulatur.

„Das Gute an diesen Schwächen ist, dass wir diese Muskeln wie den Bizeps mit körperlichen Training stärken können“, sagt Dr. Hein. „Vor der operativen Therapie einer Belastungsinkontinenz empfehlen wir deshalb allen Frauen ein Training zur Stärkung der Beckenbodenmuskulatur“, rät die Magdeburger Urogynäkologin und Oberärztin Annegret Diallo. Manchmal ist die Hilfe eines spezialisierten Physiotherapeuten erforderlich.

Auch Männer sollten nach einer Prostatakrebs-Operation die in der Reha empfohlenen Trainings regelmäßig durchführen, rät der Urologe Dr. Hein. „Viele Männer wissen oft nicht, wie sie ihren nach der Op verbliebenen Schließmuskel „ansteuern“ können.“ Anleitung zur Selbsthilfe bieten spezialisierte Reha-Therapeuten bei Prostatakrebs. Den Kontakt können Fachärzte und Krankenkassen herstellen.

Die Hauptarbeit müssen Patienten aber selbst leisten. Über ein Jahr lang sollten sie die Übungen mit Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung der Muskelgruppen einige Dutzend Mal am Tag absolvieren, rät der Magdeburger Inkontinenz-Berater. Ziel ist es, die Blase darauf zu trainieren, dem Urindruck mit der Zeit immer besser standzuhalten, so dass sich die Abstände zwischen den Entleerungen langsam verlängern. Etwa 90 Prozent der Patienten nach einer radikalen Prostataentfernung erfahren durch das gezielte Muskeltraining eine Verbesserung.

„Oftmals fragen mich Patientinnen, bei denen eine Gebärmutterentfernung ansteht, ob diese Operation zu einer Inkontinenz führt“, sagt Oberärztin Annegret Diallo. Glücklicherweise ist das sehr selten der Fall.

„Entscheidend für die Behandlung ist die richtige Diagnostik der Ursache des unfreiwilligen Urinverlustes sowie die Therapiemitarbeit des Patienten“, ergänzt Privatdozent Dr. Holm Eggemann, Chefarzt der Magdeburger Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe.

Bringt das Beckenboden- und Schließmuskeltraining nach etwa einem Jahr nicht den gewünschten Erfolg, ist eine ärztliche Kontrolle ratsam. In diesen Fällen können oftmals noch Verbesserungen der Lebensqualität durch operative Implantation sogenannter Inkontinenz-Bänder erreicht werden.

Bei Dranginkontinenz, können Fachärzte oftmals mit gezielten Einspritzungen von Medikamenten (u.a. Botox) in die Blasenmuskulatur oder mit einer Elektrostimulation helfen. „Neuerdings können wir dabei auch minimalinvasive Systeme ohne implantierten Generator einsetzen“, so Chefarzt Dr. Hein. Ist das erfolgreich, kann ein Großteil der Inkontinenzeinlagen vermieden und die Lebensqualität gesteigert werden.

Bei schweren Fällen von Belastungsinkontinenz kommt die Implantation eines künstlichen Schließmuskels zum Einsatz: bei Männern und bei Frauen führen die Ärzte am Klinikum Magdeburg diese OPs seit mehreren Jahren mit vergleichsweise hoher Sicherheit roboterassistiert durch.