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Medizinertreffen Gefährliche Impfmüdigkeit

Mehr als 300 Mediziner treffen sich am Sonnabend zum 10. Impftag in Magdeburg. Kinderarzt Dr. Gunther Gosch warnt vor mangelndem Schutz.

Von Katja Tessnow 22.10.2016, 01:01

Die Grippesaison steht vor der Tür. Wie viele Sachsen-Anhalter erkrankten in der vergangenen Saison?

Gunther Gosch: In der Saison 2015/16 wurden durch die Influenza-Arbeitsgruppe beim Landesamt für Verbraucherschutz 6636 laborbestätigte Influenza- fälle in Sachsen-Anhalt gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.

Lassen Sie sich gegen die Grippe impfen?

Selbstverständlich, wie auch alle anderen Mitarbeiter der Praxis, in der ich tätig bin.

Wie sieht es beim Rest der Bevölkerung aus?

Unzureichend ist der Impfschutz gegen Influenza vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Er liegt bundesweit bei nur etwa vier Prozent. In den USA sind etwa 60 Prozent, in Großbritannien 43 Prozent der Kinder und Jugendlichen gegen die Grippe geimpft.

Sie gehören zu jenen Experten, die in den vergangenen Jahren den Einsatz besser wirksamer Impfstoffe forderten und Kritik an Krankenkassen übten, die diese nicht zu bezahlen bereit waren. Hat sich daran etwas geändert?

Auch in diesem Jahr sind Ärzte in Sachsen-Anhalt im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens der Kassen gezwungen, ihre gesetzlich versicherten Patienten mit einem von zwei Dreifachimpfstoffen zu impfen, die nach Ansicht von Grippe-impfexperten nicht ausreichend breit schützen. Wie Daten auch aus Sachsen-Anhalt zeigen, boten Dreifachimpfstoffe in den letzten Grippesaisons unzureichenden Schutz. Die WHO empfiehlt die Verwendung breiter schützender Vierfachimpfstoffe. Ein solcher Impfstoff ist verfügbar, wird aber nur durch die meisten privaten Krankenkassen erstattet. Anders ist es bei Kindern bis zum 7. Geburtstag. Sie können von wirksameren Impfstoffen profitieren. Chronisch Kranken ab 65 kann gegebenenfalls ein wirkverstärkter Impfstoff zu Lasten gesetzlicher Krankenkassen verordnet werden.

Sind Sie für eine Impfpflicht?

Schon aus juristischen Gründen wäre eine Impfpflicht in Deutschland kaum durchsetzbar. Sinnvoller wäre neben intensiver Aufklärung ein Impfprogramm auf Bundesebene mit verbindlichen Regeln für alle Bundesländer, hilfreich ein Schulimpfprogramm. In vielen Staaten ist die Aufnahme in Kinder- und Bildungseinrichtungen, die Arbeit in bestimmten Unternehmen, sogar ein längerfristiger Aufenthalt im Land an einen vollständigen Impfstatus gebunden. Das würde ich mir auch für Deutschland wünschen.

Wer öffentliche Diskussionen verfolgt, dem drängt sich der Eindruck wachsender Impfkritik auf. Teilen Sie ihn?

In Deutschland gibt es etwa zwei Prozent Impfverweigerer. Rund zehn Prozent stehen Impfungen kritisch gegenüber, sind aber für Beratung zugänglich. Aus meiner Praxis habe auch ich den Eindruck, dass die Zahl der Impfkritiker steigt. Der Zeitaufwand für Impfberatungen besonders in den Kinderarztpraxen ist deutlich gewachsen. Es ist schwierig und mitunter frustrierend, komplexe impfmedizinische Sachverhalte in einer überfüllten Sprechstunde zielführend darzustellen, aber unsere ärztliche Aufgabe.

Worin sehen Sie die Gründe für die Impfkritik?

Vor allem bei jungen Menschen ist das fehlende Bewusstsein für die Gefahren der durch Impfungen vermeidbaren Erkrankungen eine Ursache, weil sie diese nicht selbst erlebt haben. Lässt aber der Durchimpfungsgrad nach, werden diese wieder häufiger auftreten. Ein Beispiel ist der Masernausbruch 2014, wo etwa 2500 Menschen von einem Berliner Stadtviertel mit vielen Impfkritikern ausgehend erkrankten und zwei ungeimpfte Kinder sterben mussten. Vor der breiten Einführung der Impfmedizin verstarben in Deutschland 25 Prozent der Kinder im ersten Lebensjahr an heute durch Schutzimpfungen vermeidbaren Infektionskrankheiten – ein schreckliches Szenario, welches Menschen in Krisen- und Kriegsregionen heute noch erleben.

Wie gut ist die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt durch Impfungen geschützt?

Im Deutschlandvergleich steht Sachsen-Anhalt nicht schlecht da. Die Schuleingangsuntersuchungen zeigen, dass die Kinder vor den meisten Krankheiten gut geschützt sind. Defizite gibt es bei der 2. Masernimpfung. Nur wenn der Durchimpfungsgrad flächendeckend 95 Prozent überschreitet, wäre diese gefährliche Krankheit, wie von der WHO gefordert, ausrottbar. Dieses Ziel ist erreichbar, wie das Beispiel Amerika zeigt, wird in Deutschland jedoch regelmäßig verfehlt. Auch bei anderen Impfungen gibt es Lücken.

Zum Beispiel?

Eine Studie des Robert-Koch-Institutes zeigt, dass 15 Prozent der Erwachsenen nicht über ausreichenden Schutz gegen die Kinderlähmung verfügen. In Zeiten großer Migrationsbewegungen aus Krisengebieten steigt bei unzureichendem Impfschutz auch im seit 2002 poliofreien Deutschland die Gefahr des Wiederauftretens der Kinderlähmung, wie 2015 in der Ukraine oder kürzlich in Israel. Verbesserungswürdig ist auch der Impfschutz gegen Erkrankungen durch Pneumokokken besonders bei chronisch Kranken sowie gegen die Krebserkrankungen hervorrufenden humanen Papillomaviren HPV.