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Weißer Ring Nach dem Missbrauch nicht allein

Dieter Montag beschäftigt sich ehrenamtlich mit Missbrauch und Überfällen. Er gehört zu den gut 100 Opferbetreuern beim Weißen Ring.

Von Elisa Sowieja 21.08.2015, 01:01

Barleben l An seinen ersten eigenen Fall erinert sich Dieter Montag noch sehr gut: Kurz nach 17 Uhr, der Versicherungsberater macht gerade Feierabend, klingelt sein Telefon. Es ist die Zentrale des Weißen Rings, eine Frau aus dem Bördekreis habe sich dort gemeldet, heißt es. Er ruft zurück, mit knappen Worten verabreden sich beide. Montag steigt ins Auto und fährt zum vereinbarten Schnellrestaurant. Als er ankommt, sitzt die Frau schon an einem Tisch in der Ecke. Er setzt sich ihr gegenüber. Dann beginnt sie mit zittriger Stimme von ihrer Tochter zu erzählen. Zwölf Jahre alt. Das Mädchen hat ihr gerade gestanden, dass es vom Großvater jahrelang missbraucht wurde.

„Bis dahin kannte ich sowas nur aus dem Film“, sagt Montag. Wenn er diese Geschichte heute erzählt, wirkt er zwar betroffen, zugleich aber recht routiniert. Das liegt wohl daran, dass der Barleber inzwischen zig solcher Fälle betreut hat. Seit 1998 kümmert er sich ehrenamtlich um Kriminalitätsopfer. Seit 2014 ist er zudem Vize-Vorsitzender des Weißen Rings Sachsen-Anhalt.

Gut 100 Betreuer wie ihn zählt der Verein landesweit. Hinzu kommen 20 Ehrenamtler, die sich um Spenden oder Öffentlichkeitsarbeit kümmern. Bis auf Chef und Sekretärin wird niemand bezahlt.

Mit sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt hat das Team in Sachsen-Anhalt am häufigsten zu tun, berichtet der 60-Jährige, im Schnitt in jedem dritten Fall. Viele andere melden sich wegen Überfällen auf Tankstellen und Banken – darunter sind auch Extremfälle: „Ich habe mal eine Bankmitarbeiterin betreut, die insgesamt neunmal überfallen wurde.“

Die Ehrenamtler haben unterschiedliche Möglichkeiten, zu helfen. Oft vergeben sie Gutscheine: für einen Anwalt zum Beispiel, oder auch für eine psychologische Beratung – denn für Selbstzahler fallen lange Wartezeiten auf Termine schnell weg. Bei Vergewaltigungen werden zudem häufig Gutscheine für die gerichtsmedizinische Untersuchung zur Beweissicherung vergeben. Denn wenn das Opfer noch keine Anzeige erstattet hat, muss es die Kosten selbst tragen. Manchmal stellt der Verein auch Barschecks aus, etwa für einen Umzug, um ein Opfer aus dem Täterumfeld zu holen.

„Es geht aber nicht nur um Geld. Vielen reicht es auch, jemanden zum Reden zu haben“, berichtet der Barleber. Darüberhinaus begleitet er häufig jemanden zur Polizei oder zum Anwalt. 80 Prozent der Opfer, die den Verein aufsuchen, waren zuvor noch nicht bei der Polizei. „Wir versuchen dann, sie zu ermutigen.“ Die meisten würden sich darauf einlassen, sagt er.

Bei zwei Arten von Kriminalität haben es die Ehrenamtler sehr schwer, zu helfen: Stalking und Cybermobbing. Dabei spielt beides eine immer größere Rolle, berichtet Montag: „Wir erfassen zwar die Verbrechensarten nicht statistisch. Die Kollegen und ich merken aber deutlich, dass wir mit diesen Themen häufiger zu tun haben als vor einigen Jahren.“

Gegen Stalker könne man nicht viel mehr tun, als eine einstweilige Verfügung zu erwirken. „Das hilft natürlich nicht, wenn jemand ständig SMS schickt.“ Und Telefonanbieter würden in der Regel nur einen Nummernwechsel im Jahr mitmachen.

Beim Mobbing im Internet gibt es zwei Probleme: Erstens kann man sich nicht immer rechtlich wehren, vor allem, wenn die Täter noch nicht strafmündig sind. Zweitens kennen sich die Mitarbeiter nicht immer mit Facebook und Whatsapp aus – was vor allem daran liegt, dass die meisten 60 Jahre und älter sind. Vielen können sie trotzdem helfen: analog, bei einem Gespräch mit dem Täter. „Das funktioniert in etwa der Hälfte der Fälle“, sagt Montag.

Wie wichtig das Thema geworden ist, merkt der Ehrenamtler, wenn er in Schulen im Rahmen seiner Kriminalprävention darüber spricht: „In der Pause fragt fast immer ein Schüler nach meiner Telefonnummer.“ Bisher bietet der Weiße Ring kein gesondertes Projekt zu Cybermobbing an. Nächstes Schuljahr geht es aber in zwei siebenten Klassen los.

Wie sich ein Mitarbeiter gegenüber Opfern verhält, lernt er in Lehrgängen. Dort berichten Alteingesessene von ihrer Arbeit, und es werden Regeln erklärt. Eine lautet: Das Opfer muss sich von sich aus melden. „Das fällt manchmal schwer, wenn man von einem schlimmen Fall in der Zeitung liest“, erzählt Montag. Vor allem, wenn man weiß, dass nur jedes zehnte Opfer zum Weißen Ring kommt. Bevor ein neuer Betreuer eigene Fälle erhält, begleitet er nach seiner Grundausbildung noch mindestens dreimal einen Erfahrenen.

„Was diese Arbeit wirklich bedeutet, merkt man allerdings erst, wenn man zum ersten Mal allein bei einem Opfer sitzt“, sagt Montag. Als er sich damals um den Kindesmissbrauch kümmerte, war seine Stieftochter gerade acht Jahre alt. „Da schluckt man erst recht, wenn man so etwas hört.“ Allerdings habe er schnell gelernt, mit der Belastung umzugehen: „Ich lasse keinen Fall in mein Privatleben. Sonst komme ich nicht in den Schlaf“, erklärt er. Seine Frau zum Beispiel wisse immer nur, wo er gerade sei.

Aus demselben Grund möchte Montag auch nicht wissen, was aus den Opfern wird, wenn er seinen Opfern nicht mehr helfen kann. Mutter und Kind aus seinem ersten Fall sah er zum letzten Mal, als er sie in einer Nacht- und Nebelaktion aus ihrem Dorf abholte und in einen Zug in Richtung Ostsee setzte, damit sie ein wenig zur Ruhe kommen konnten.

Dass sich Dieter Montag trotz der Belastung alle paar Wochen aufs Neue einem Fall stellt, dafür hat er einen guten Grund, findet er: „Es gibt doch genügend Opfer.“