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Ausbildung Von Lehrstellen und Leerstellen

Noch 3000 Lehrstellen sind in Sachsen-Anhalt unbesetzt. Bewerber finden sich - aber nicht ohne Zugeständnisse der Arbeitgeber.

Von Sandra Reulecke 08.09.2015, 01:01

Magdeburg l 7 Uhr morgens. Während bei anderen der Wecker klingelt, hat Gerold Matz Feierabend. Der 18-Jährige ist Auszubildender zum Bäcker und gerade ins dritte Lehrjahr gestartet. Das Herstellen der Produkte bereite ihm Spaß, berichtet der Seehausener. „Nachts zu arbeiten weniger.“ Mittlerweile habe er seinen Rhythmus gefunden: Nach der Arbeit fünf Stunden Schlaf und vor der Schicht ein bis zwei. Um 23 Uhr beginnt sein Arbeitstag im Nachbarort Beuster in der Altmark.

Einen Ausbildungsplatz zu finden – und das in der Nähe seines Heimatortes – ist für Gerold Matz nicht schwierig gewesen. Er hat lediglich eine Bewerbung geschrieben, gesteht er. Nach einem Praktikum in der Backstube von Olaf Buchholz erhielt der Altmärker gleich die Zusage.

Seit vier Generationen betreibt Buchholz´ Familie die Bäckerei in Beuster. Olaf Buchholz selbst hat das Handwerk ab 1980 erlernt, bildet seit 20 Jahren aus. „Wir bekommen deutlich weniger Bewerbungen als früher“, berichtet der Bäckermeister. In den 1990er Jahren seien es bis zu 30 gewesen, mittlerweile melden sich etwa vier Interessenten im Jahr. Ob Schulabsolventen heute schlichtweg nicht so früh zum Arbeiten aufstehen wollen, bezweifelt Buchholz. „Schichtarbeit wird schließlich in vielen Branchen verlangt.“ Er sieht die Gründe für die schwindenden Bewerberzahlen vielmehr in den sinkenden Einwohner- und Schülerzahlen in der Region. „Früher hatten wir mehr Bewerber, weil es ganz einfach mehr Schüler gab“, vermutet Buchholz.

Seine These wird durch Statistiken der Agentur für Arbeit gestützt: 1994 haben 20 865 Jugendliche aus Sachsen-Anhalt Lehrstellen gesucht, 2009 waren es 14 333, dieses Jahr haben sich 12 434 gemeldet – für 11 805 Ausbildungsstellen. Rein rechnerisch müsste jede Lehrstelle im Land zum Start des Ausbildungsjahres besetzt sein. Die Realität sieht anders aus: 3037 Plätze sind frei, 2434 Bewerber haben keine Lehre gefunden.

Unbeliebt sind die Berufe mit noch freien Stellen deshalb nicht gleich: So werden 20 Fachverkäufer im Lebensmittelhandwerk gesucht, teilt Rita Speer von der Handwerkskammer Magdeburg mit. Andererseits wurden bereits 46 Ausbildungsverträge für den Beruf geschlossen. Offensichtlich sei der Bedarf der Unternehmen höher als die Anzahl geeigneter und interessierter Bewerber, erläutert Speer.

Bäckermeister Olaf Buchholz hatte Glück. Erstmals bildet er dieses Jahr drei Fachverkäuferinnen aus, zwei weitere hatten sich beworben.

Anders ergeht es da Renate Walter. Gern würde die Gastronomin Restaurantfachkräfte in ihrem Landgasthaus in Lostau ausbilden. Seit gut zwölf Monaten hat sie die Stelle im Internet und bei der Agentur für Arbeit inseriert – und erhielt keine einzige Bewerbung.

Immerhin haben zwei Auszubildende zum Koch im August bei ihr angefangen. „Aber bei einer bezweifle ich, dass sie durchhält. Sie hat sich schon nach der ersten Woche krank gemeldet“, berichtet Renate Walter enttäuscht. „Der Übergang von der Schule ins Arbeitsleben fällt vielen schwer“, versucht sie zu erklären. Sie habe Verständnis dafür, wenn Jugendliche Arbeit außerhalb der Dienstleistungsbranche suchen. „Wir sind immer dran, wenn andere frei haben: Wochenende, abends und an Feiertagen.“ Auch sei die Vergütung für Auszubildende in der Gastronomie deutlich niedriger als zum Beispiel in der Industrie.

Neben den negativen Aspekten der Branche sieht Renate Walter Versäumnisse der Elternhäuser. „Nach meinem Gefühl haben Eltern ihre Kinder früher mehr bestärkt, sich rechtzeitig um eine Lehre zu kümmern und diese dann auch abzuschließen.“ In den vergangenen Jahren habe sie einen Anstieg von Lehr-Abbrechern verzeichnet. „Auch Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit haben bei vielen Lehrlingen nachgelassen.“

Das habe sie so frustriert, dass sie mehrere Jahre lang keine Lehrlinge angestellt hatte. „Aber wer gute Fachkräfte haben möchte, sollte sie selbst ausbilden“, betont sie. Die Gasthof-Inhaberin hofft nun, dass sie für dieses Ausbildungsjahr noch Bewerbungen erhält. Trotz der Nachteile habe die Gastronomie einiges zu bieten: „Wir haben tolle Veranstaltungen, sehr nette Stammgäste und sind ein tolles Team“, wirbt Renate Walter.

Ihre Chancen stehen nicht schlecht. „Erfahrungsgemäß werden auch nach Start des Lehrjahres noch Verträge abgeschlossen“, sagt Jana Echternach von der Agentur für Arbeit in Magdeburg. Bis zum Oktober bemühen sich Arbeitsvermittler darum, die „übergebliebenen“ Bewerber und Firmen zusammenzubringen. „Nachvermittlung“ wird das genannt. Sie empfiehlt Betrieben, die noch keine Azubis haben, sich bei der Agentur zu melden. „Bis Oktober ist es realistisch, den versäumten Stoff in der Berufsschule aufholen zu können.“

Und wie können Firmen im kommenden Jahr früher Auszubildende finden? „Die Attraktivität des Berufs und des Arbeitgebers spielen eine wichtige Rolle. Betriebe sollten offensiv zeigen, was die Arbeit zu bieten hat“, empfiehlt Jana Echternach. Messen seien eine gute Plattform dafür. Zudem sollten Unternehmen langfristige Praktika anbieten. „Schon ab der siebten, achten Klasse“, sagt die Fachfrau. „Wer in dem Alter Interesse an einem Beruf oder Unternehmen findet, wird sich nach dem Schulabschluss daran erinnern.“

Bei Friseurmeisterin Bianca Zacke erhalten auch Bewerber ohne Schulabschluss eine Chance. „Wer immer zur Berufsschule geht und wirklich Interesse hat, kann seine Lehre trotzdem gut abschließen“, sagt sie. Als sie sich vor elf Jahren selbständig machte, hatte sie jedoch höhere Ansprüche. „Man muss als Ausbilder heute definitiv mehr Zugeständnisse machen“, sagt die Magdeburgerin achselzuckend. Das bedeute auch schon mal Nachhilfe außerhalb der Arbeitszeit, besonders, wenn den Lehrlingen der Unterricht in der Berufsschule schwerfalle.

Die Zeiten, in denen Betriebe sich aus vielen Bewerbern die Besten aussuchen konnten – teilweise sogar Abiturienten –, seien vorbei, sagt Bianca Zacke. Heute herrsche vielmehr ein Konkurrenzkampf unter den Unternehmen. „Es kommt vor, dass ein Salon die Lehrlinge des anderen abwirbt“, berichtet die Friseurmeisterin.