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Zweiter Weltkrieg Die Hotelkinder von Schierke

120 Babys sind Anfang 1945 im Schierker Hotel „Fürst zu Stolberg“ geboren worden. Jetzt gibt es ein Treffen.

Von Ivonne Sielaff 30.09.2015, 01:01

Schierke/Magdeburg l Schierke steht als Geburtsort im Ausweis von Petra Hartmann. Doch der kleine Ort im Harz hatte lange keine Bedeutung für sie. „Ich fühlte mich als Magdeburgerin, bin dort aufgewachsen“, sagt die Rentnerin. Über die Umstände ihrer Geburt hatten ihre Eltern nie mit ihr geredet. „Und ich selbst brauchte eine gewisse Reife, um das kleine Wort Schierke in meinem Ausweis zur Kenntnis zu nehmen.“ Erst viel später habe sich die Mutter ihr gegenüber geöffnet und von den dramatischen Wochen vor 70 Jahren berichtet.

Es war Januar 1945. Ein eisiger Winter. Der Zweite Weltkrieg tobte schon seit fünf Jahren. Wie viele andere deutsche Großstädte war auch Magdeburg Ziel der alliierten Bomber. „Meine Mutter war hochschwanger, fünf Wochen vor dem Entbindungstermin“, weiß Petra Hartmann aus den Erzählungen ihrer Mutter. Nach dem heftigen Angriff am 16. Januar stand Magdeburg in Flammen. 90 Prozent der Innenstadt waren zerstört. Überall Trümmer. Obwohl es Nacht war, war es taghell.

Rotkreuz-Mitarbeiter suchten zwischen den Ruinen nach Verletzten und gezielt nach Schwangeren. „Diese Frauen wurden zum Bahnhof nach Buckau gebracht und in einen Zug gesetzt. Es war sehr kalt, die Scheiben waren zugefroren, die Holzbänke hart und unbequem.“ Sie verbrachten die ganze Nacht darin, denn Frontzüge hatten Vorrang. Schließlich setzten sich die Wagen in Bewegung. Das Ziel war Schierke.

Das Dorf am Fuße des Brockens war bereits seit 1941 Lazarettort. Alle großen Hotels und Pensionen wurden zu Lazaretten umfunktioniert, Schwestern und Ärzte versorgten unter schwierigsten Bedingungen Kriegsverletzte. Anfang 1945 wurden schwangere Frauen aus der weiteren Umgebung, aus Magdeburg, Halberstadt, aus Braunlage und Goslar, in den Hotels einquartiert – so auch im „Fürst zu Stolberg“, welches später in DDR-Zeiten für viele Menschen als unerreichbares Luxushotel „Heinrich Heine“ im Sperrgebiet berühmt und berüchtigt werden sollte.

Flott sei es in jenen Tagen im Kreißsaal zugegangen. „Die Hebammen leisteten Enormes“, sagt Petra Hartmann. Die Patientinnen hatten nur das Nötigste dabei. Kein Babybettchen, keine Windeln, keine Strampler. Die Kinderschwestern gaben sich Tag und Nacht größte Mühe, um den Frauen zu helfen. Nicht nur während der Geburt, sondern auch danach.

Was sich im Keller des Gebäudes abspielte, blieb den Patientinnen nicht verborgen. Medikamente, Betäubungsmittel und Verbandsmaterialien waren Mangelware. Operationen und Amputationen fanden unter brutalsten Bedingungen statt. Oft hallten die Schreie der Sterbenden durch das Haus.

Petra Hartmann kam am 26. Februar im „Fürst zu Stolberg“ zur Welt. „Meine Mutter war so glücklich, dass es mir gut ging.“ Auch nach ihr wurden noch Kinder in dem Hotel geboren. Zwischen Januar und Mai insgesamt 120.

Im April überschritten die Amerikaner die Weser, drangen über Oderbrück nach Braunlage vor. Am 17. April wurde der Brocken bombardiert, Hotel, Fernsehturm und Wetterwarte beschädigt. Einen Tag später besetzten die Amerikaner Schierke. Sie waren am Hotel „Fürst zu Stolberg“ interessiert, suchten gezielt danach, weil es ein Lazarett war. Zudem ging das Gerücht um, dass sich ranghohe Nazi-Offiziere dort verschanzt hatten.

„Die Frauen hatten panische Angst vor den Amerikanern. Schließlich hatten die Deutschen den Krieg angefangen. Sie waren der Feind. Würden die Soldaten ihre Babys töten?“ Die Patientinnen hatten die Bombardierung ihrer Heimatorte überlebt. Nun bangten sie um das Leben ihrer Kinder. Die Säuglinge waren alle in einem großen Raum untergebracht. Die Amerikaner drangen zu dem Saal vor, verließen ihn aber wieder, ohne einem Kind auch nur ein Haar zu krümmen. Auf jedes der winzigen Bettchen hatten sie eine Tafel Schokolade gelegt. Eine rührende Geste, die die Frauen sehr beruhigte.

Bis in den Juni hinein blieb Petra Hartmann mit ihrer Mutter in Schierke. Inzwischen hatte diese herausgefunden, dass ihre Wohnung vollständig ausgebombt war. In Magdeburg gab es zu der Zeit eine Verordnung, wonach die Leute, die noch ausreichend Wohnraum hatten, verpflichtet wurden, Ausgebombte aufzunehmen. „In der Meldestelle wurde meiner Mutter ein Zettel mit einer Adresse am Stadtrand in die Hand gedrückt.“

Als sie sich bei ihrer Verwandtschaft und den Schwiegereltern meldete, fielen die aus allen Wolken, hatten sie doch seit jener Bombennacht im Januar nichts von ihr gehört und sie für tot gehalten. „Mein Vater war zu dem Zeitpunkt in Gefangenschaft. Über meinen Onkel hat er schließlich erfahren, dass seine Frau und sein Töchterchen wohlauf waren. Das waren schlimme Zeiten damals.“

Was ihr Schierke heute bedeutet? „Es ist mein Geburtsort“, sagt Petra Hartmann. „Schon zu DDR-Zeiten war ich oft da, habe viele meiner Geburtstage dort gefeiert. Ich habe dort schöne Urlaubstage und nie Negatives erlebt.“ Nach der Wende zeigte sie ihrem Sohn, später ihren Enkeln das Hotel „Heinrich Heine“, das frühere „Fürst zu Stolberg“, in dem sie einst zur Welt gekommen war. „Das war mir ein Bedürfnis.“

Im Laufe der Jahre erlebte sie so auch den Niedergang des einst so prächtigen Gebäudes. Das Hotel schloss Anfang 1995 für immer seine Pforten. Heute ist es eine Ruine. „Der Verfall ist bewegend und schmerzhaft für mich. Es war ein angesehenes Haus. Man hätte es weiterführen können. Es hatte doch einen Namen.“

Die aktuellen Entwicklungen verfolgt Petra Hartmann mit Interesse. Wie kürzlich bekannt wurde, sind Investoren aus Hildesheim an dem Grundstück interessiert und wollen ein Feriendorf errichten. „Ich habe einen großen Wunsch. In fünf Jahren will ich dort meinen 75. Geburtstag feiern. Das wäre was“, sagt sie. „Ich hänge an diesem Fleckchen Erde. Ich bin eben eines der Hotelkinder, eines der Glückskinder aus dem ‚Fürst zu Stolberg’.“