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Integration Ein Konzept der kurzen Wege

Mit einem Pilot-Projekt zur Flüchtlingsbetreuung ist der Salzlandkreis Vorreiter. Es wird nun auf ganz Sachsen-Anhalt ausgedehnt.

07.02.2016, 23:01

Staßfurt l „Manchmal klingeln die Flüchtlinge auch nachts“, sagt Anette Pekrul. Meistens, weil jemand ins Krankenhaus muss. Dann setzt sie sich oft selbst ins Auto und fährt los. Vier Tage pro Woche öffnet Anette Pekrul in Staßfurt einen interkulturellen Nachbarschafts- treff, der Sprachschule, Kleiderkammer und Lebenshilfe zugleich ist. Ihre Wohnung liegt gleich gegenüber. Privatleben und Engagement trennen: Fehlanzeige. Wenn Anette Pekrul die Tür des Treffs um 14 Uhr aufschließt, beginnt wenig später, was sie als „geordnetes Chaos“ beschreibt.

Eigentlich sollte Pekrul Flüchtlinge nur auf Behördengängen und bei Arztbesuchen begleiten. Seit April ist die 55-Jährige eine von 44 Soziallotsen ist im Salzlandkreis. 150 Euro erhält sie monatlich dafür, eher eine Anerkennung als eine Vergütung. Nach den positiven Erfahrungen im Salzlandkreis läuft ein ähnliches Projekt jetzt auch auf Landesebene an.

Insgesamt bringt der Salzlandkreis 2550 Asylbewerber unter, mehr als jeder andere Kreis im Land. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass kleinteilige Strukturen besser funktionieren“, sagte Alexandra Koch, Sprecherin des Landkreises. 70 Flüchtlinge, hauptsächlich Syrer, besuchen den Treff regelmäßig. An diesem Nachmittag sind es ungefähr 30. „Jeder ist anders, bringt seine eigenen Probleme und Sorgen mit“, sagt Anette Pekrul.

Zwei junge Syrer unterstützen sie ehrenamtlich. Womit die Landsleute am meisten zu kämpfen haben? „Der Papierkram. Deutschland, Sie wissen schon“, sagt Lubna Alkhateeb auf Englisch, während sie Kaffee und Kekse für die Gäste auf den Tisch stellt. Die 25-Jährige Psychologiestudentin aus Damaskus ist seit vier Monaten in Deutschland.

Ihr Mann, der 33-jährige Mediengestalter Mohammad Almahayni, hilft bereits dem ersten Besucher. Der will Verwandte in Leipzig besuchen, hat aber wenig Erfahrung im Zugreisen. Seelenruhig schreibt Mohammad Almahayni den Zugfahrplan auf Deutsch und Arabisch auf. Danach muss der Mann alles Schritt für Schritt wiederholen, bis es sitzt. Erst dann ist Almahayni zufrieden, bringt den Mann aber sicherheitshalber zum Bahnhof. Lubna Alkhateeb hilft inzwischen einer 32-jährigen Frau aus Rakka, deren kleiner Sohn sich eine Verbrennung zugezogen hat. Hilflos hält die Mutter die Unterlagen des Kinderarztes hin. Auf denen steht: „Bitte Behandlungsschein einreichen.“ Ohne den gibt es keinen Termin. Anette Pekrul klemmt sich sofort ans Telefon, während Alkhateeb die Frau beruhigt. Der Landkreis gibt telefonisch Auskunft: Der Behandlungsschein ist im Krankenhaus in Aschersleben liegengeblieben und wird nachgeschickt. Soziallotsen im Salzlandkreis haben Ansprechpartner in Ämtern und Behörden, die ihre Arbeit erleichtern, so Kreissprecherin Koch.

Nach und nach kommen immer mehr Familien an. Manche brauchen Hilfe. Andere wollen nur reden und eine Tasse Kaffee trinken, bevor später der Deutschkurs beginnt. Kinder laufen umher, eine Gruppe Männer übt Gitarre, der Raum füllt sich mit Gesprächen.

Mittendrin bleibt Anette Pekrul vor allem eins: gelassen. Die gebürtige Niedersächsin war in ihrem Leben Medienunternehmerin, Bau-Sachbearbeiterin, Autorin und arbeitet freiberuflich als Medienberaterin – jetzt ist sie eben auch Flüchtlingshelferin. Dass das Leben in Deutschland anders läuft als in den Ländern der arabischen Welt, weiß Anette Pekrul aus eigener Erfahrung. Im Jahr 1990 assistierte sie beim Bau des Bagdader Flughafens. Als der Golfkrieg ausbrach, war die damals 29-Jährige zehn Wochen als menschliches Schutzschild in der Militärzentrale des Landes gefangen, bevor sie ausreisen durfte.

Ihre Erfahrungen verarbeitete sie in einem Buch. „Albtraum Irak“ wurde ein Bestseller. „Ich habe sogar mein Testament gemacht damals“, sagt sie. Über ihre Zeit im Irak erzählt Anette Pekrul heute trotzdem nur Positives. „Auch als Geisel habe ich von Mitgefangenen Gastfreundschaft erfahren“, sagt sie. „Ich bin froh, dass ich etwas zurückgeben kann.“ Meinung